Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
verschafft hatte, indem er großzügig darüber hinwegsah, dass sie selbst gerade einmal sieben Jahre zur Schule gegangen war. Im Gegenzug hing sie einen Großteil ihrer Arbeitszeit am Handy und wickelte Parteigeschäfte ab. Asha war imstande, ihre Slumnachbarn an die Wahlurne zu bringen. Sie war imstande, rasch hundert Frauen für einen spontanen Protestmarsch zu mobilisieren. Der Bezirksrat überlegte, ob sie eventuell auch zu mehr imstande war. Er gab ihr den Auftrag, ein kleines annawadisches Problem aus der Welt zu schaffen, dann noch eins, nicht mehr ganz so kleines, und ein drittes, ganz und gar nicht kleines. Danach schenkte er ihr einen Blumenstrauß, und seine fette Frau glotzte sie scheel an.
Asha nahm all das als Vorzeichen ihres unmittelbar bevorstehenden Triumphs. Nach acht Jahren in diesem Slum, die sie in der Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung in politische Arbeit investiert hatte, besaß sie endlich einen einflussreichen Gönner. Mit der Zeit, so malte sie sich aus, würden selbst die Männer in Annawadi anerkennen müssen, dass
sie
der mächtigste Mensch an diesem verstunkenen Ort war.
Viele Männer hatten sie nur ausgenutzt, von Anfang an. Mit Blick auf ihre großen Brüste und ihren mickrigen und ständig betrunkenen Mann hatten sie ihr gemeinsame Vergnügungen angetragen, durch die sich doch auch die Armut ihrer Kinder etwas mildern ließe. Der bedrohliche Robert persönlich hatte ihr eines Abends, als sie einen Eimer Wasser von der Pumpe holte, einen dreisten Antrag gemacht. Asha hatte den Eimer abgesetzt und kühl gekontert: »Was immer du willst. Sag’s mir, du Mistkerl. Soll ich mich jetzt hier nackt ausziehen und für dich tanzen?« So hatte noch nie eine Frau mit einem Slumlord gesprochen, weder vorher noch nachher.
Asha hatte sich schon als Kind bei der Feldarbeit in einem verarmten Dorf im Nordosten von Maharashtra ein scharfes Mundwerk zugelegt. Deutliche Ansagen waren die wirksamste Verteidigung, wenn man mit lauter geilen Männern zusammen arbeitete. Verschwiegenheit und Scharfsinn, die Eigenschaften, mit denen man einen Slum wirksam kontrollieren konnte, hatte sie erst gelernt, nachdem sie in die Stadt gezogen war.
Inzwischen hatte sie einen Blick hinter die Kulissen geworfen und erkannt, dass Mumbai ein Ameisenhaufen voller Hoffnung und Ehrgeiz war – und daraus einträgliche Schlüsse gezogen. Mumbai war auch ein Ort des schwelenden Grolls und des allgegenwärtigen Neids. Gab es eigentlich in dieser Stadt, die immer reicher wurde und immer ungleichere Chancen bot, einen Menschen, der die eigene Unzufriedenheit nicht einem anderen Menschen in die Schuhe schob? Die wohlhabenden Bürger gaben den Slumbewohnern die Schuld daran, dass die Stadt dreckig und unbewohnbar war, dabei sicherte doch gerade das Überangebot an Humankapital die niedrigen Lohnkosten für ihre Hausmädchen und Fahrer. Die Slumbewohner schimpften über all die von den Reichen und Mächtigen errichteten Barrieren, die sie von der Teilhabe an neuen Verdienstmöglichkeiten aussperrten. Egal wo, jeder schimpfte auf seinen Nächsten. Im einundzwanzigsten Jahrhundert trugen die Leute ihren Protest jedoch immer seltener gemeinsam auf die Straße. Je mehr das Gefühl der Gruppenzugehörigkeit durch die Kaste, die ethnische Herkunft und die Religion schwand, desto mehr wurden Zorn und Hoffnung ins Private verlagert, wie so vieles in Mumbai. Mit dieser Entwicklung wuchs aber gleichzeitig auch der Bedarf an geschickten Mediatoren – an menschlichen Stoßdämpfern für die vielen kollidierenden, kleinkarierten Interessen in einer der größten Städte der Welt.
Naturgemäß verschliss bei so manchem Stoßdämpfer mit der Zeit die Federung. Und wer wollte ernsthaft bestreiten, dass eine Frau, noch dazu ein relativer Neuling, sich da als langlebiger erweisen könnte? Asha hatte ein Händchen für die Lösung der Probleme ihrer Nachbarn. Sie könnte doch jetzt, wo der Bezirksrat auf sie hörte, noch viel mehr Probleme in seinem Auftrag lösen. Und wenn sie erst mal echte Kontrolle über den Slum hätte, könnte sie selbst Probleme schaffen, um sie dann zu lösen. Ein äußerst einträgliches Vorgehen, wie sie durch die Beobachtung des Bezirksrats gelernt hatte.
Schuldgefühle von der Art, die Robert überkommen hatten, waren ein Bremsklotz für effektives Arbeiten in den Geheimkanälen der Stadt und nach Ashas Ansicht der reine Luxus. »Korruption, hier ist alles Korruption«, erklärte sie ihren Kindern und
Weitere Kostenlose Bücher