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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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flatterte dabei mit den Händen, als ob zwei Vögel zum Flug ansetzten.
     
    Als Asha eines Nachmittags aus der Schule nach Hause kam, sah sie schon von weitem die Schlange der Bittsteller vor ihrer Hütte, ging aber keinen Schritt schneller. Sie hatte vom Bezirksrat gelernt, dass man psychologisch im Vorteil war, wenn man Leute warten und schmoren ließ. Sie nickte den Besuchern nur knapp zu, ging hinter einen Spitzenvorhang auf der Rückseite ihrer Hütte und wickelte sich aus dem dunkelroten Sari, den sie bei der Arbeit getragen hatte.
    Sie war jetzt in einem Alter, in dem ihre Augen mehr Aufmerksamkeit auf sich zogen als ihre Brüste. Sie konnte ihren Blick blitzschnell wie eine Waffe einsetzen. Jungen, die Asha dabei erwischte, dass sie Manju begafften, ihre prachtvolle neunzehnjährige Tochter, taumelten wie angeschossen rückwärts. Wenn sie an Geld dachte, rutschten ihre Pupillen enger zusammen. Und an Geld dachte Asha fast immer, weshalb die Annawadier sie hinter ihrem Rücken »Silberblick« nannten. Aber das eigentlich Besondere an ihren Augen war dieses Strahlen. Bei den meisten Leuten wurden die Augen mit dem Alter und den Enttäuschungen trübe. Ashas Augen leuchteten heute sogar heller als auf dem Jugendfoto, das sie noch besaß. Ein junges Bauernmädchen war darauf zu sehen, großgewachsen, gebückt, ausgemergelt, dunkelhäutig von der Sonne, das gerade eben in den Stand der Ehe getreten war, einer katastrophalen Ehe. Asha musste immer lachen, wenn sie das Foto ansah.
    In einem formlosen Hauskleid trat sie wieder hinter dem Vorhang hervor, noch eine Taktik, die sie dem Bezirksrat abgeguckt hatte, der oft nur im Unterhemd in seinem Wohnzimmer mit den lavendelblauen Wänden und den lavendelblauen Möbeln Hof hielt, die Beine gerade so eben umhüllt vom Lungi, während die Bittsteller in ihren Polyesteranzügen matt vor sich hin schwitzten. Er hätte genauso gut laut verkünden können:
Eure Anliegen sind mir so egal, dafür ziehe ich mir nicht extra was an.
    Asha nahm auf dem Boden Platz, ließ sich von Manju eine Tasse Tee reichen und erteilte mit einem Nicken der ersten Bittstellerin das Wort. Es war eine alte Frau mit einem schönen, zerfurchten Gesicht und verfilzten silbernen Haarbüscheln, die aber nicht wegen eines Problems gekommen war. Sie weinte vor Dankbarkeit, weil ihr Asha auf den Tag genau vor drei Jahren einen Zeitjob bei der Stadtverwaltung beschafft hatte, neunzig Rupien am Tag dafür, dass sie Unrat aus verstopften Abflussrohren zog. Bis sie es besser wusste, hatte Asha solche Nettigkeiten noch manchmal umsonst gewährt.
    Die Frau hatte von ihrem Lohn einen billigen grünen Sari für sie gekauft. Asha war die Farbe egal. Aber es war gut, dass die anderen hörten, wie die alte Frau sie mit Segenssprüchen überhäufte, und sahen, wie sie ihr die Stirn auf die nackten Füße presste.
    Auch die nächste, die reden durfte, weinte: eine übergewichtige Exotik-Tänzerin, die ihren Job in einer Bar verloren hatte und sich als Mätresse eines verheirateten Polizisten durchschlug. Sie musste dem Officer in der Hütte zu Diensten sein, die sie mit ihrer Mutter und den Kindern teilte, was regelmäßig hysterische Reaktionen seitens der Familie auslöste. »Er sagt, er will nicht mehr kommen, wegen dem Theater. Aber was sollen wir dann essen?«
    Asha gluckste. Eine Moralkampagne hatte den größten Teil des Sexgewerbes aus der Flughafengegend vertrieben, den sogenannten »Unsoliden« von Annawadi blieben nur drei gleich ungute Orte, um ihre Freier zufriedenzustellen: in der Familienhütte, hinter der Schlange der über Nacht abgestellten LKWs außerhalb des Slums oder im Einzimmerpuff mit den Ziegen.
    Asha riet der Frau barsch, ihrer Familie noch einmal genau die langfristigen Vorteile der Liaison zu erklären. »Im Augenblick zahlt der Polizist vielleicht nicht allzu viel, aber später repariert er dir vielleicht mal das Haus. Also sag deinen Leuten, sie sollen den Mund halten und Geduld haben.«
    Beim Reden ließ Asha die Fingerspitzen über die neuen orangeroten Keramikfliesen gleiten. Vor acht Jahren, als Annawadi noch ein provisorisches Lager war, waren ihre drei Kinder immer wieder auf LKW -Anhänger geklettert und hatten Holz- und Blechabfälle geklaut, aus denen sich die Familie einen Verschlag zusammengezimmert hatte. Inzwischen war es eine Hütte mit Gipswänden, einem Ventilator an der Decke, einem hölzernen Schrein mit Elektrokerze und einem hochwertigen, aber leider nicht

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