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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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heißlief und die Gefahr, dass sie ihre Tugend verlor, langsam akut wurde. Aber die Gefahr bestand bei Manju eher nicht. Sie hatte sich während ihrer Teenagerzeit zu einem Muster an Anstand und Sanftmut entwickelt – zwei Eigenschaften, die ihrer Mutter abgingen, wie Manju fand.
    Eines Nachmittags stand Rahul vor einem kleinen an die Wand genagelten Spiegel. Er klopfte sich Manjus Fair & Lovely-Hautaufheller-Lotion ins Gesicht, behielt seine Schwester aber durch das braun gescheckte Glas im Blick. Manju kniete auf dem Boden, ihr schimmernder Zopf fiel ihr über die Schulter, und murmelte immer verzweifelter englische Wörter.
    »Was ziehst du denn für ’n Gesicht?«, fragte Rahul.
    Manju sah hoch. »Nicht so viel Creme, Rahul!«
    Die Fair & Lovely-Lotion war fundamental für die Bewahrung ihrer hellen Haut und damit ihres Wertes auf dem Heiratsmarkt, aber auch Rahul und der kleinere Bruder Ganesh benutzten sie, und zwar verschwenderischer als Manju.
    Rahul schaltete den Fernseher an. Tom & Jerry. Jerry hatte sich mit Schuhcreme getarnt und redete Tom gerade ein, er habe genug Sprengstoff geschluckt, um eine ganze Stadt in die Luft zu jagen. Manju sah eine Minute zu, dann seufzte sie wieder. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte sie. »In einer Stunde kommen meine Schüler, und ich hab meine eigenen Schularbeiten noch nicht fertig. Mein Computerlehrer hat gesagt: ›Frag mal deine Mutter, was du lieber machen sollst – deine Photoshop-Aufgaben oder euren Haushalt?‹ Der lässt mich glatt durchfallen. Hab ich dir schon erzählt, was gestern im Psychologiekurs los war? Ich war auf dem Klo und hatte mein Portemonnaie unterm Tisch gelassen, da klaut mir doch irgendwer mein Geld. Was sind denn das für Leute! Dabei haben die anderen Mädchen alle mehr Geld als ich. Aber wieso erzähl ich dir das überhaupt? Du hast nur Augen für den Fernseher – du hörst ja doch nicht zu.«
    »Ich höre wohl zu«, protestierte Rahul. »Bloß, du hast von so vielen Seiten Druck, ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll.«
    Rahul stand selbst unter Druck, er musste die Prüfungen der neunten Klasse und seinen Job spätabends im Hotel unter einen Hut bringen. Inzwischen konnte er perfekt nachahmen, wie die Mienen der Kellner im Intercontinental einrasteten, sobald ein Gast sich näherte. Dazu musste der Kopf einen Tick aufwärtsgereckt werden, das signalisierte:
Ich bin hellwach und folgsam,
und gleichzeitig das Kinn servil abwärtsgehen:
Ich bin ganz unsichtbar, Sir, wenn Ihnen das lieber ist.
Rahul hatte ein offenes Gesicht und Augen, die vor Lust auf Spaß förmlich sprühten. Bei den Mädchen von Annawadi zeigte ein Blick von ihm schnell Wirkung. Aber vielleicht, überlegte er, hätte ihm eine bessere Beherrschung seiner Mimik die Demütigung erspart, die er neulich bei einer Hotelparty hatte einstecken müssen.
    Der Ärger war losgegangen, als der DJ nach Mitternacht anscheinend auf telepathischem Weg Rahuls Musikwünsche herausfand. Erst kam ein Kracher von Christina Aguilera –
»I am beautiful, no matter what they say«
 – und gleich danach
»Rise Up«,
ein Danceclub-Hit von Yves Larock, Rahuls aktueller Lieblingssong.
    Rise up! Don’t be falling down again
    Rise up! Long time I broke the chains.
    Der englische Text sagte ihm nichts, aber die Basslinie war unwiderstehlich. Wenn er die nur hörte, vibrierte er sofort innerlich. Womöglich hatte er, als die ersten Akkorde durch den Hotellautsprecher echoten, gelächelt oder mit einem Fuß mitgetappt. Jedenfalls hatten ihn plötzlich zwei junge Gäste am Arm gezupft und gesagt, er solle doch mal ein paar »Mumbai moves« zeigen.
    Besoffene Weiße waren bekannt für großzügige Trinkgelder. Also fing er an, ein paar Schritte vorzuführen – ohne Schulter- und Armbewegungen, nur mit Kopf und Füßen, ganz dezent, wie er dachte.
    »Bist du verrückt geworden, du Arschloch?«
    Ein Hoteloberer packte ihn. Andere Manager stürmten quer durch den Saal auf ihn zu. Gerade so, als wäre er mit einer Gabel auf einen Bollywood-Star losgegangen. Die festangestellten Kellner feixten, als er auf den Absätzen in den Müllraum geschleift wurde. Erst später zu Hause, als er wieder zu sich kam, fiel ihm das Argument ein, mit dem er sich gut hätte wehren können. Das erste Gebot der Hotelarbeit hieß doch, die Gäste nicht anzuglotzen, und hieß das zweite nicht, zu tun, was immer sie verlangten?
    Als Trickfilm-Tom ein Haus in Scherben legte, ging Rahul wieder zum

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