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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Spiegel, und Manju machte sich an die Lektüre für ihr Hauptfach, englische Literatur. Heute war das Drama der englischen Restaurationsepoche im 17 . Jahrhundert dran, William Congreves
Der Lauf der Welt.
    Manju hatte die Komödie nicht gelesen, und das erwartete auch kein Lehrer von ihr. Liberaler Literaturunterricht hieß überall in Indien schlicht Einpauken, außer in den feinsten Colleges, in denen die meisten Schüler aus den wohlhabenden höchsten Kasten kamen. In Manjus Durchschnittscollege für Mädchen, gegründet vom Lion’s Club, wurde nur verlangt, eine Zusammenfassung auswendig zu lernen, die der Lehrer von jedem Werk des Lehrplans angefertigt hatte, und sie fehlerfrei wiederzugeben, zuerst in der Klassenarbeit und später bei der Examensprüfung. Manju hatte ein gutes Gedächtnis. Aber diese Figuren in
Der Lauf der Welt
waren wirklich schwer auseinanderzuhalten.
    »Millamant, Mirabell, Petulant – hast du so Namen schon mal gehört? Von der Sorte gibt’s noch einige«, erzählte sie Rahul nach einer Weile. »Die lügen und betrügen alle, um an Geld zu kommen, aber ich versteh die Stelle nicht, wo mein Lehrer schreibt, was die ganze Geschichte bedeuten soll.«
    »Liebe ist zweitrangig«, stand da.
Love is subordinated.
Sie hatte zwar noch nie mit einem Jungen in ihrem Alter Händchen gehalten, aber
love
war ein englisches Wort, bei dem sie sich sicher war.
Subordinated
dagegen würde bei ihrer Mutter bloß eine gereizte Reaktion auslösen, weil sie Manju schon lange ein Wörterbuch Englisch-Marathi versprochen, aber noch immer nicht gekauft hatte. Mutter und Bruder konnten beide kein Englisch und hielten es auch beide für eine Zumutung, dass die Sprache der ehemaligen Kolonialherren selbst im unabhängigen Indien noch Voraussetzung für anständige Jobs in Büros und Hotels sein sollte, schließlich war Marathi eine genauso altehrwürdige Sprache.
    Manju dagegen hielt die neue Bedeutung von Englischkenntnissen für einen Nebeneffekt von etwas, das sie generell begrüßte: ein weltoffeneres und meritokratisches Indien. Und wie man die Sprache lernte, war eigentlich ziemlich egal, ob anhand von Congreve-Lektüre oder indem man im PERSONALITEEZ-INC -Kurs für gesprochenes Englisch vorgefertigte Dialoge einübte oder irgendein Job-Training für ein international operierendes Call-Center absolvierte. Englische Sprachkompetenz war ein Nachweis für Weltläufigkeit und eine hervorragende Ausbildung, also ein potenzielles Sprungbrett raus aus dem Slum. Noch klang Manjus Englisch stockend und hölzern, aber immerhin sprach sie das zweitbeste Englisch von Annawadi.
    Das beste Englisch sprach Prakash, der Betriebswirtschaft lernte und nicht weit vom Tempel lebte. In der komplizierten sozialen Hierarchie der Jugend von Annawadi – die weniger auf der Kastenzugehörigkeit als auf wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven beruhte – stand Prakash an der Spitze. Er kam ursprünglich aus der Mittelschicht und hatte eine gute Privatschule besucht, aber dann war sein Vater von einem Zug überfahren worden. In seiner Freizeit verkaufte Prakash für eine mickrige Provision Investmentaktien, als Telefondrücker der ICICI Bank.
    Manju war überzeugt, dass Prakash wusste, was
subordinated
genau hieß, aber sie hatte noch nie mit ihm gesprochen. Im Slum mussten junge Frauen immer überlegen, ob der Wert einer eventuellen Interaktion mit einem Mann die Gerüchte aufwog, die sie garantiert auslöste. Es gab jetzt schon Getuschel, weil ein Kricketspieler sich ein Foto von Manju verschafft und in Herzform laminiert hatte. Deshalb würdigte sie, als sie zum Wäscheschrubben nach draußen ging, den einzigen anderen Annawadier, der auch aufs College ging und in nur ein paar Metern Entfernung lesend vor seiner Hütte saß, keines Blickes.
    »Mirabell – Beau. Millamant – galant. Mr. Fainall – Hahnrei.« Sie murmelte Bruchstückchen aus der Kurzfassung vor sich hin, während sie mit dem Stein auf den großen Schlüpfern ihrer Mutter, dem kleinen Hemd ihres Vaters herumrieb.
    »Nein, Mirabell ist ja der galante.« Sie nahm die ausgewrungenen Sachen mit nach drinnen und hängte sie auf eine Leine. Ein Teil der Wand dahinter endete einen halben Meter unter dem Dach, ihr Vater hatte schon vor ewigen Zeiten versprochen, die Lücke zu schließen, aber das war genauso wahrscheinlich wie die Vorstellung, dass ihre Mutter mit einem Englisch-Marathi-Wörterbuch nach Hause kam.
    Während sie die zwei Herdflammen putzte, sagte sie

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