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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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dann spielen wir wieder, dann gibt’s Mittagessen«, so beschrieb der junge Nepali Adarsh den Lehrplan der Marol-Gemeindeschule. Das kostenlose Mittagessen war der große Magnet. Adarsh ging nach seinem normalen Schultag noch in Manjus Nachmittagsunterricht, sie brachte einem jedenfalls immer etwas bei, und wenn es Literatur in Kurzfassung war, die sie gerade fürs College auswendig lernte. Manjus Schüler verstanden zwar ebenso wenig, worum es in
Mrs. Dalloway
ging, aber dass Othello wegen seiner dunklen Haut beargwöhnt wurde, das bekamen sie mit.
    Eins der Schulkinder stürmte plötzlich so wild in die Hütte, dass das Plakat des alten Shiv-Sena-Gründers Bal Thackeray vom Haken an der Wand flatterte. »Devo! Du kommst viel zu früh!«, schimpfte Manju. »Und die Schuhe hast du auch nicht ausgezogen!«
    Dann wanderte ihr Blick von den Schlammpfützen am Boden hoch zu seinem Gesicht, das heftig blutete.
    »Ach so, ja«, sagte der Junge und fasste sich an den Kopf, »ein Taxi …«
    Die Kinder von Annawadi wurden ständig angefahren – meistens auf dem Weg in die Marol-Gemeindeschule, wenn sie an einer der tückischen Kreuzungen durch den chaotischen Verkehr mussten. Ein neuer Führerscheinbesitzer, der beim Fahren in sein neues Handy quasselte, das ergab oft eine tödliche Kombination. Manju sprang auf, schnappte das Kurkumapulver neben dem Herd und kippte es auf Devos Wunde. Kurkuma, für Verletzungen so gut wie für Bräute vor der Hochzeit. Sie tupfte das Gelbwurzpulver in die Wunde, bis es sich mit dem Blut zu einer hellorangefarbenen Paste vermischt hatte, und drückte den Finger dann fest drauf. Sie wollte gerade nachsehen, ob sie das Blut wirklich gestillt hatte, als Devos einäugige verwitwete Mutter in der Tür stand und mit einem dreißig Zentimeter langen Stück Metall herumfuchtelte.
    »Dich bringt kein Auto um! Und dich rettet auch kein Gott! Du bist bloß wieder auf der Straße rumgetrödelt, und dafür bring ich dich jetzt eigenhändig um!«
    Devo flitzte unter den Holzschrank, in dem Manjus Familie ihre Habseligkeiten aufbewahrte, und gab schon mal prophylaktisch einen qualvollen Heulton von sich. Die Mutter zerrte ihn hervor und fing an, mit dem Metallstück auf ihn einzudreschen.
    »Nicht!«, rief Manju. »Nicht auf den Kopf! Nicht auf die Wunde!«
    »Ich schlag dir die Zähne raus! Ich hau dir dein Fleisch in rote Klumpen«, brüllte die Witwe. Verletzungen und Krankheiten waren der schnellste Weg zum finanziellen Ruin in Annawadi, und die Frau stand schon bei dem Kredithai in der Kreide, um den Krankenhausaufenthalt ihres verstorbenen Ehemannes bezahlen zu können. »Wenn der Fahrer dich nun wirklich schlimm erwischt hätte, wovon hätte ich wohl den Arzt bezahlt? Sag mir das, Devo. Hab ich eine Rupie übrig, um dein Leben zu retten?«
    »Halt!«, schrie Manju und versuchte vergebens, die Hand der Frau zu packen. Inzwischen war Rahul aufgewacht und rollte die Augen, seiner Meinung nach war die ganze Hüttenschule sowieso bloß ein Magnet für familiäre Melodramen. In ruhigeren Momenten fiel Manju dann immer ein, dass Eltern in einer Stadt, in der immer mehr Gefahren lauern, nun mal entsetzliche Angst haben, die Kontrolle über ihre Kinder zu verlieren. Erst recht in einer Stadt, die sie selbst nicht wirklich verstehen. Und sosehr sie jede Art von Gewalt hasste – gelegentliche Dresche, auch ein gelegentlicher Axthieb, konnte ein Kind wirksam in der näheren Umgebung halten.
    Devos Mutter war allerdings mit konstruktiver Pädagogik nicht mehr beizukommen. Manju warf sich zwischen Mutter und Sohn und schaffte es irgendwie, die Mutter zu umklammern.
    »Versprich mir«, sagte sie keuchend zu Devo, »dass du nie wieder auf die Straße läufst.«
    »Nie wieder«, brachte Devo unter heftigem Schluchzen hervor. »Ich mach nie wieder so ’n Fehler.«
    Bevor die Mutter ging, fixierte sie Manju mit ihrem einen Auge und sagte: »Wenn der hier morgen nicht bei dir sitzt und lernt, brech ich ihm die Beine und kipp ihm Petroleum ins Gesicht.«
    Manju versorgte Devos Wunde zum zweiten Mal, als ein kleines Mädchen vorwurfsvoll sagte: »Du, Frau Lehrerin, du kommst zu spät zum Unterricht.«
    Manju nahm ihre blut- und kurkumaverschmierte Dupatta ab. »Komm, wir gehen zusammen, die anderen abholen.« Ohne Aufsicht in der Hütte schlugen ihre Schüler womöglich genauso über die Stränge wie ihre Brüder mit der Fair & Lovely-Lotion.
    Manju kam grundsätzlich mit einem wütend verkniffenen Gesicht aus

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