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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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nicht auf der Stirn kleben geblieben, sondern abgerutscht und war auf dem Hals liegen geblieben. Er funkelte so hübsch. Asha war schon weg zur Arbeit. Manju ließ ihn, wo er war. Ein tugendhaftes Mädchen durfte ruhig unvollkommen sein.
    Endlich waren alle Schüler in ihrer Hütte und suchten sich einen Platz auf dem blutbefleckten Fußboden.
    »Guten Tag, Schüler«, sagte Manju auf Englisch.
    »Guten Tag, Frau Lehrerin«, riefen die Schüler ohrenbetäubend laut zurück.
    Manju hielt inne, unsicher, was sie als Nächstes machen sollte. Sie hatte
Der Lauf der Welt
selbst noch nicht gut genug verstanden, um die Handlung mit ihnen durchzunehmen. Die würde sie sich nachher beim Essenkochen noch einhämmern müssen, bevor ihre Mutter wieder mit ihrem Vater über sein Gesaufe stritt. Der offizielle Brückenschulstoff des Tages waren die englischen Begriffe für Obst – Äpfel, Bananen, Mangos, Papayas. Sie beschloss, sich allmählich dahin vorzuarbeiten und zunächst die vorige Lektion über Autos, Züge und Flugzeuge noch einmal abzufragen. Aber zuallererst, denn die Kinder balgten sich noch, gab es zehn Minuten Dampfablassen mit dem Lied
Head and shoulders, knees and toes.
    Der Gesang der kleinen Schüler hallte über den ganzen Maidan, wie immer um diese Uhrzeit. Sunil, der junge Müllsucher, hörte gern zu, wenn er seine Ausbeute an Abdul verkaufte. Im Februar hatte er selbst ein paar Tage in Manjus Schule gesessen und ein ganzes englisches Kinderlied gelernt,
Twinkle, twinkle, little star.
Aber dann hatte er es sinnvoller gefunden, Geld fürs Essen zu verdienen. Inzwischen war er der Meinung, Manjus Schule sei reine Zeitverschwendung mit albernen Spielchen in einer Hütte.
    Für Abdul war Manju das bestbegabte Mädchen von Annawadi, und er fand es erstaunlich, dass ein kleiner Junge sich ihr so überlegen fühlen konnte. Nicht, dass er nicht auch arrogant war. In den Wochen, bevor Einbein verbrannte und alles sich änderte, hielt er sich zum Beispiel für jemanden, der anderer Leute Schicksal vorhersagen konnte, insbesondere das von Müllsuchern. Bei Sunil war das allerdings schwer. Verachtung war zwar mächtig und konnte einen Menschen verändern, aber wenn Sunil noch immer fand, »A wie Apfel« auswendig zu lernen könne seinem Leben eine andere Wendung geben, dann hatte ihm das Müllsucherdasein das Hirn wohl noch nicht komplett verätzt.

[home]
    Teil Zwei
    Feurige Geschäfte
    Die Reichen kloppen sich doch um die
    dämlichsten Sachen. Wieso dürfen das
    nicht auch die Armen?
    Rambha Jha,
    eine Mutter in Annawadi

5. Das Geisterhaus
    A nfangs hatte Einbein ihren armen, viel älteren Mann nach Brüderchen-und-Schwesterchen-Art geliebt. Nach der Hochzeit hatte sie andere Spielarten von Liebe kennengelernt. Der neue Geschmack, den Zuneigung haben konnte, war eine zu bedeutende Offenbarung, um im Verborgenen zu blühen. Mit etwa Mitte dreißig hatte Einbein in Annawadi den Ruf weg, dass ihr Bedarf an Sex ebenso aufdringlich war wie ihr Lippenstift. Wäre sie einfach irgendeine Frau gewesen, ihre Affären hätten einen Skandal hervorgerufen, doch da sie eine behinderte Frau war, lösten sie nur Gelächter aus. So wie ihre spektakulären Wutausbrüche, die manchen Abend in Annawadi belebten.
    Ihr verbales Arsenal hatte Fatima schon früh ausgebaut, eine Folge all der Kränkungen wegen des Beins, mit dem sie geboren worden war und das unterm Knie in eine Flosse überging. Mit dreißig konnte sie selbst Zehrunisa niederkeifen. Als sie dann ein Paar staatlich geförderte Metallkrücken bekam, war sie doppelt bewaffnet. Dank ihrer starken Schultern drosch sie mit voller Wucht auf Nachbarn ein, die sie für respektlos hielt. Sie warf die Krücken auch verblüffend zielsicher durch die Gegend. Kommt vom Desi-Fusel, munkelten manche Leute, um solche Anfälle zu erklären, aber es gab in ganz Annawadi nicht genug Fusel, um Fatimas Zorn so dauerhaft zu munitionieren.
    Fatima war versehrt und leugnete es auch gar nicht. Sie war Analphabetin – was sie ebenso wenig leugnete. Wenn aber jemand ihre Wutattacken als dumm und animalisch deklarierte, dann war das
bukwaas,
totaler Blödsinn. Ein Großteil ihrer Gewalttätigkeit kam ja gerade aus der verspäteten Erkenntnis, dass sie ein Mensch war wie alle anderen.
    Manche ihrer Nachmittagsmänner ließen ihr Geld da, die meisten waren zu arm dafür. Aber selbst die Allerärmsten hatten etwas zu bieten: Ihretwegen konnte Fatima begreifen, was ihre Eltern ihr genommen hatten –

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