Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
diese schamhaft-schamlosen Eltern, die ihre nicht ganz vollkommene Tochter in der Hütte versteckt hatten.
Es war jeden Tag eine Strafe gewesen, mit ansehen zu müssen, wie ihre Geschwister zur Schule laufen durften und, wenn sie zurückkamen, die ganze Zuneigung ihrer Eltern auf sich zogen. »Ich hatte so einen Selbsthass damals«, erzählte sie einmal Zehrunisa, der sie abwechselnd vertraute und grollte. »Ich hab immer bloß zu hören gekriegt, ich bin verkehrt geboren.« Auch heute noch konnte sich ihre Mutter, wenn sie durch die halbe Stadt zu Besuch anreiste, nicht verkneifen, ein Hochglanzfoto von Fatimas jüngerer Schwester herumzuzeigen – einem Wunderwesen mit zwei Beinen und einem glitzernden Edelstein in der Nase. »
Das
ist ein gutes Mädchen«, sagte sie dann gern, »siehst du, wie hübsch sie ist, und die helle Haut?«
»Einbein könnte noch viel böser sein und schlimmer pöbeln, so wie die aufgewachsen ist«, sagte Zehrunisa zu Abdul, obwohl sie persönlich es für bloßes Selbstmitleid hielt, wenn erwachsene Frauen auf ihre Kindheit schimpften. Sie selbst war kaum imstande, über ihre frühen Jahre zu reden, in Pakistan bei wässriger Weizenspelzensuppe, bis sie mit Hilfe einer arrangierten Heirat endlich über die Grenze durfte. Eine honigsüße Jugend hatte in Annawadi ohnehin kaum eine Frau hinter sich. Fatima allerdings war der Meinung, elende Jugendjahre gehörten ausgebügelt durch ein paar gute spätere, und die hatte sie noch vor sich.
Sie hatte nicht die Absicht, die Rolle der kratzfüßig dankbaren Behinderten zu spielen, wie die Wohltätigkeitsfritzen es erwarteten. In einem Slum, wo selbst die widerstandsfähigsten Frauen sich mit Hausarbeit aufrieben, war es ohnehin schwer genug, den eigenen Stolz zu bewahren. Während des Monsuns fing Fatimas Tag oft so an: auf einem Bein und zwei Krücken fünf Liter Wasser im Kessel von der Pumpe holen, der Matschboden glitschig, platsch. Dazu junge Töchter, hinter denen sie nicht herrennen konnte – ungestüme Geschöpfe, die ständig was brauchten und ihr mit ihrer wilden Art bewiesen, wie unzulänglich sie war. Nur in den Stunden, wenn die Männer kamen – und ihr eigener bei der Arbeit und die Töchter in der Schule waren –, fühlte sich das an ihrem Körper, was sie zu bieten hatte, bedeutender an als das, was fehlte.
Im Juni, wenn die viermonatige Monsunzeit begann, kamen alle sensiblen Annawadier ins Grübeln. Der Slum, von hohen Mauern und Wällen aus illegal entsorgtem Bauschutt umrahmt, war eine einzige Dreckwasserschüssel. Als 2005 die ganze Stadt überschwemmt und lahmgelegt worden war, hatte Fatimas Familie fast all ihr Hab und Gut verloren, so wie die Husains und viele andere Einwohner. Zwei Menschen waren ertrunken, und es wären noch mehr geworden, wenn nicht ein Bautrupp, der gerade das Hotel Intercontinental erweiterte, die Slumbewohner mit Seilen aus den Wasserfluten gezogen und gerettet hätte.
Dies Jahr kamen die Wolkenbrüche sehr früh, eine Woche lang prasselte der Regen nieder wie Nägel. Rund um Annawadi wurden alle Bauarbeiten eingestellt, und die Tagelöhner machten sich auf Hunger gefasst. Hüttenwände wurden grün und schwarz vom Schimmel, die öffentliche Kloake ergoss sich über den Maidan, Fußpilz wuchs sich zu winzigen Skulpturen aus – für traditionell Zehenringe tragende Annawadier eine besondere Qual.
»Meine Füße bringen mich um«, sagte eine Frau mit einem Pilz, der wie Schmetterlingsflügel flatterte, während sie im Regen in der Schlange vor den Wasserpumpen wartete. »Bei dem, was meine Kinder essen, reicht mein Reisvorrat keine zwei Wochen«, sagte die Frau hinter ihr. Die saisontypischen Klagen nahmen Fahrt auf. »Ich hab keine Lust, monatelang mit meinem Mann im Haus zu hocken.« – »Sei doch froh, wenigstens ist es nicht Mr. Kamble – Tag und Nacht die Herzklappenleier.« Die Frauen gewöhnten sich gerade an den Rhythmus der Monsunklagegesänge, da hörte der Regen auf, und statt seiner kam eine sirupgelbe Sonne zum Vorschein. Jetzt wünschten sie sich den Regen zurück, das war doch irgendwie unnatürlich, dass der tagelang ausblieb.
Die Kinder sahen die Regenpause anders. Bald fing die Schule wieder an, und so ein klarer Himmel machte eine letzte Ferienspielorgie möglich. Mirchi eröffnete eine Partie Riesenringewerfen auf dem Maidan, mit geplatzten Fahrradreifen und einem Fahnenmast aus Abduls Depot.
»Reiner Zufall«, sagte er, als Rahuls Schlauch den Mast
Weitere Kostenlose Bücher