Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
der Hütte. Aber jeder, der aus dieser Tür trat, kniff die Lippen zusammen, niemand hatte Lust auf einen Mund voll Fliegen, die einzigen Kreaturen im Slum, die von den angegammelten Waren in Ashas neuem Gemüsehandel richtig begeistert waren.
»Alle herkommen, Schule!«, rief Manju, während sie quer über den Maidan ging und die Müllstapel umkurvte, die Abdul gerade sortierte. Sie kannte Abdul, Rahul hing oft mit dessen Bruder Mirchi rum, aber natürlich sprach sie nicht mit ihm. Und der Junge mit dem Müll sprach, soweit sie wusste, sowieso mit niemandem.
»Kinder, jetzt aber schnell«, rief sie noch einmal, klatschte in die Hände und bog in eine der Slumgassen. »Husch-husch! Wird Zeit!« Offiziell hielt sie es für eine lästige Pflicht, ihre Schüler zusammenzutrommeln. Müssten die nicht freiwillig kommen?
Aber insgeheim tat sie es gern, so konnte sie ein paar Minuten lang – und als Lehrerin gegen Gerüchte gefeit – draußen sein, in Türen spähen und Klatschfetzen von Nachbarn aufschnappen. Heute tobte der Streit unter anderem um Klemmbretter mit Honda-Motorrad-Reklame. Sie waren eine Spende von einem Händlernetz aus Siloam Springs in Arkansas, Amerika, und sollten drei Dutzend von World Vision unterstützten Kindern in Annawadi geschenkt werden, aber die Sozialarbeiter horteten sie bei sich. Manju war immer erleichtert, wenn sie von einem lokalen Skandal erfuhr, bei dem ihre Mutter mal keine tragende Rolle spielte.
Nach und nach kamen immer mehr Schüler aus den Hütten, die meisten kleine Mädchen unter zwölf. Viele trugen von der Sonne ausgeblichene Kleidchen mit kaputten Reißverschlüssen, die den Blick auf ihre knochigen Rücken freigaben. Um Sharda machte sich Manju keine Sorgen. Die Kleine war von Geburt an so spindeldürr wie ihre Mutter, die so lange auf der Straße Steinbrocken zerschlagen hatte, bis ihr die Lungen versagten. Lakshmi dagegen war ein Fall, der ihr weh tat. Ihre Stiefmutter fütterte mit dem Essen, das es im Haus gab, nur die eigenen Kinder. Zubbu, die elfjährige Tochter des Puffbesitzers war ausstaffiert mit hautengen Fahrradshorts und baumelnden Ohrringen und hatte ihren Bruder im Schlepptau. Die Geschwister waren lieber nicht zu Hause, wenn Besucher kamen und Sex wollten, vor allem, wenn es um Sex mit ihrer Mutter ging. Für viele dieser Kinder war Manjus Schule keine Brücke irgendwohin, sondern die einzige Bildung, die sie überhaupt bekamen.
Das Trüppchen stapfte gemeinsam zur Hütte von Manjus Geheimschülerin Meena. Meenas Eltern waren, was Mädchen und Lernen betraf, aus altem Holz: Zu viel Bildung machte Mädchen weniger gefügig. Manju hatte Meena hinter dem Rücken der Eltern Englisch beigebracht.
Meena war fünfzehn, das erste in Annawadi zur Welt gekommene Mädchen, ihre Eltern hatten vor ihrer Geburt zwei Jahre lang mitgeholfen, aus Sumpfland einen Slum zu machen. Sie entstammte der untersten Kaste der Dalits, während Manju zu den Kunbis gehörte, einer rückständigen, aber höheren Bauernkaste. Für die beiden Mädchen, überhaupt für die meisten jungen Annawadier, war die ganze Kasten-Fixiertheit der Erwachsenen irgendwie künstlich und ohne Bedeutung. Manju und Meena waren Freundinnen geworden, weil sie beide gern tanzten, und sie waren Freundinnen geblieben, weil jede die Geheimnisse der anderen für sich behielt.
Meena lächelte kurz, als sie Manju vor der Tür stehen sah, aber es war nicht ihr breites, verführerisches Filmstarlächeln, das kein anderes Mädchen so gut hinkriegte. Heute lächelte Meena in der Version »geh wieder«, und das besagte, dass sie Hausarrest hatte und nur nach draußen durfte, um Wasser zu holen oder aufs Klo zu gehen. Die Strafe für ihr notorisches Verbrechen: Sie konnte ihren Eltern und den Brüdern gegenüber den Mund nicht halten. Aber warum durfte sie denn nicht zuhören, wenn die Jungen auf dem Maidan über die Hotels redeten? Warum durfte sie nicht zur Schule gehen? Tagsüber war sie mit ihren Haushaltspflichten beschäftigt, aber abends packte sie manchmal ein Zorn, den ihre Mutter und ihre Brüder aus ihr herausprügeln zu müssen glaubten. So ein Benehmen konnte doch die ganze arrangierte Heirat im heimatlichen Tamil Nadu zum Platzen bringen.
Manju riet Meena immer wieder, ihren Unmut für sich zu behalten, so wie sie. Aber die Aufsässigkeit der jungen Tamilin brachte auch in ihr eine Saite zum Klingen. Als sich Manju an diesem Morgen fürs College fertig gemacht hatte, war der kleine silberne Bindi
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