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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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blieb kaum etwas ein Geheimnis, zum Beispiel dass sowohl Fatima als auch ihre Mutter da waren, als Medina ertrank, und die Hütte war winzig. Auch Fatimas sechsjährige Tochter Heena war dabei, sie erzählte später: »Medina war eine ganz liebe Schwester, bis zu dem Tag.«
    Zehrunisa hatte das Leichenhemd und die Grabparzelle für Medina bezahlt und seither versucht, sich einzureden, dass ihr Tod wirklich ein Unfall gewesen war. Sie musste an ihre eigenen Kinder denken, sie wusste ja selbst nie genau, was die den lieben langen Tag so trieben.
    Die Polizei kam auch mal und hörte sich in Annawadi wegen Medinas Tod um, aber die Ermittlungen wurden schnell eingestellt. In Slums starben andauernd Mädchen unter dubiosen Umständen, die meisten Familien hier hatten kein Geld für Ultraschalluntersuchungen, mit deren Hilfe reichere Familien ihre weiblichen Passivposten schon vor der Geburt entsorgen konnten. Und wenn Kinder, egal welchen Geschlechts, kränkelten, wurden sie eben manchmal einfach abgeschafft, sie zu pflegen hätte ruinöse Kosten verursacht.
    Der einjährige Danush, der zwei Gassen von den Husains entfernt lebte, hatte sich in dem verdreckten Krankenhaus, in dem er zur Welt gekommen war, eine Infektion zugezogen. Seine Haut löste sich ab, er schrie, wenn er nur mit dem Laken in Berührung kam. Seine Familie nahm zu Wucherzinsen Kredit um Kredit auf, die Versuche, ihn gesund zu machen, verschlangen fünfzehntausend Rupien. Eines Abends im März hatte sein Vater die Mutter weggeprügelt und dem Baby in seiner Sari-Wiege einen Topf kochende Linsen übergekippt. Ashas Sohn Rahul war mitten in die Horrorszene hineingeplatzt – und sofort losgerannt, die Polizei holen. Zu Zehrunisas maßloser Bewunderung. Der kleine Danush war rechtzeitig in ein Krankenhaus gekommen und hatte überlebt. Zehrunisa tat es jedes Mal weh, wenn sie ihn sah: ein einziges tiefernstes Auge, das nicht zwinkern konnte, in einem Gesicht, das aussah wie eine verkohlte Landkarte.
    Nach Medinas Tod wirkte Fatima seltsam befreit. Dass die Frauen über sie herzogen, schien ihr ziemlich egal zu sein. Sie malte sich dramatische Augenbrauen, überzog ihre Wangen mit einer Puderglasur – »die hat fünfzig Rupien springen lassen, um ’ne weiße Lady aus sich zu machen«, tuschelten die Husain-Jungen – und legte sich einen Satz neue Liebhaber zu. »Hast du gesehen, wie die mich angucken, der Typ und sein Freund?«, fragte sie Zehrunisa. »Bist du neidisch? Dich guckt keiner an.« Die Männer, die sie sich in die Hütte holte, erklärte sie weiter, fanden sie schön. Und dass es so eine Frau wie sie in ganz Indien nicht gebe. Und dass sie ein schöneres Leben verdiene als das hier.
    Die Husains hatten Mitleid mit Fatimas Mann, er sortierte Müll in einem anderen Slum und verdiente hundert Rupien, einen Euro fünfzig, bei einem Vierzehnstundentag. Mirchi erklärte unverblümt: »Die behandelt den Alten wie ’n Schuh.« Der Schuh kam öfter zu ihnen herüber und beschwerte sich über seine flatterhafte Frau, und eines Abends hatte Zehrunisa ihn aufgezogen. »Du Trottel, hätt’st du vorher mal mich gefragt. Ich hätt’ dir ’ne nette Muslima mit allen beiden Beinen besorgen können, die deine Kinder großzieht und deinen Haushalt führt, so wie sich das gehört.«
    Ein Fehler. Dünne Wände. Schon stand Fatima da, die Krücken schwenkend. »Wie kommst du dazu, mich eine schlechte Ehefrau zu nennen!«
    Wenn Fatima sich mit ihrem Mann in den Haaren lag, rief sie trotzdem immer nach Zehrunisa. Und Zehrunisa ging seufzend nach nebenan und trennte das Unglückspaar, so pünktlich wie sie jedes Mal seufzte, wenn Eid und andere muslimische Feste ins Haus standen und sie Einbein doch etwas von ihrem Lamm-Korma brachte. Die Familie der Kindermisshandlerin Fatima, die Familie der Puffbesitzerschlampe: Das war nun mal die einzige muslimische Nachbarschaft, die sie in Annawadi hatte.
    »Ein einzelnes Bambusrohr ist leicht zu brechen, ein festes Bündel lässt sich nicht mal biegen«, erklärte sie ihren Kindern. »Und genauso ist das mit der Familie und mit unseren Glaubensgenossen. Trotz aller kleinen Differenzen, Muslime müssen zusammenhalten, im schweren Leid genau wie beim Eid.«
     
    Schwarze Wolken hingen über den Hügeln im Westen der Stadt, aber sie platzten nicht auf. In Annawadi zielten die Kinder weiter mit Fahrradschläuchen auf Fahnenmasten, und eines Julimorgens sah Karam Husain wieder von der Türschwelle aus zu und strahlte. Das Hemd

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