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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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hinunterschuckelte.
    »Von wegen Zufall«, konterte Rahul, während ein paar andere Jungen Beifall klatschten und ihm auf den Rücken klopften. »Hier, guck hier – ich kann das noch mal!«
    Zehrunisa kam aus der Hütte, sah zu und wischte sich Tränen aus den Augen, als sie ihren Sohn so ausgelassen sah. Mirchi schien den Schatten vergessen zu haben, der über der Familie lag, weil er die neunte Klasse nicht geschafft hatte. Für sie war er das aufgeweckteste ihrer Kinder, sie hatte ihn sogar schon Doktor werden sehen. Dass er überraschend durchgerasselt war, verlängerte die Liste der familiären Krisen auf drei. Ihr Mann Karam lag im Krankenhaus und rang um Atem, und ihre älteste Tochter Kehkashan war ihrem Mann nach einem Jahr Ehe davongelaufen.
    Dass Mirchi so fröhlich war, hatte viel mit der Rückkehr seiner Schwester zu tun. Alle Husain-Kinder hatten sich gefreut, dass sie wieder da war. Nicht nur weil sie kochte und sauber machte, jetzt, wo Zehrunisa die meiste Zeit im Krankenhaus verbrachte. Kehkashan war immer schon wie eine zweite Mutter für sie gewesen – eine besser organisierte und weniger erschöpfte Ausgabe des Originals. Sie war allerdings auch mit einem gebrochenen Herzen im Blick wieder nach Hause gekommen.
    Ihr Mann war ein Cousin von ihr, Zehrunisa und eine ihrer Schwestern hatten die Heirat schon arrangiert, als die beiden zwei Jahre alt gewesen waren. Aber Kehkashan spürte genau, dass in den intimen Fotos im Handy ihres Mannes – und die Frau war keineswegs schöner als sie – irgendwie die Antwort auf eine Frage lag, die sie seit der Hochzeit gequält hatte. Warum wollte ihr frischgebackener Ehemann nie mit ihr schlafen? »Einmal hat er gesagt, ›weil du immer so früh zu Bett gehst‹, also bin ich extra lange aufgeblieben«, erzählte sie ihrer Mutter. »Dann ist er abends gar nicht mehr nach Hause gekommen. Er sagte: ›Du hast mich nicht zu kritisieren, ich stehe nicht unter deinem Recht.‹ Was ist denn das für ein Leben?« Die Frauen in der Familie ihres Mannes lebten streng in Purdah – sie wohnten getrennt von den Männern und verließen das Haus nie unverschleiert und ohne männliche Begleitung. »Da hocke ich die ganze Zeit zu Hause und bin total abhängig von diesem Mann«, sagte Kehkashan, »und dann kommt raus, dass er nie mit dem Herzen bei mir war.«
    Zehrunisa hoffte, dass ihre Schwester den Ehemann wieder auf Kurs bringen könnte. Aber auf Kehkashans dringliche Frage – »Wie kann man denn jemanden zwingen, einen zu lieben?« – wusste sie auch keine Antwort, denn über mangelnde Liebeslust konnte sie bei ihrem Mann nicht klagen.
    Die Hindu-Kricketjungen registrierten Kehkashans Rückkehr und fanden, diese junge Muslima sah so toll aus, da spielte es keine so große Rolle mehr, dass sie Ziegenfleisch aß und im Müll wohnte, zumal sie ja jetzt vermutlich keine Jungfrau mehr war. Sie glotzten ihr sogar in die Hütte hinterher. Kehkashan wich den Blicken aus. Manchmal wünschte sie sich, reizloser zu sein, einfach um in Ruhe gelassen zu werden.
    Zehrunisa beschuldigte Fatima, lauter deckwütige Rüden an die Schwelle der Familienhütte zu locken. Einen von Fatimas Liebhabern hatte sie schon mit Prügeln verscheucht, er war andauernd herüberscharwenzelt gekommen und hatte ihrer Tochter anzügliche Blicke zugeworfen, aber das war ein gebrechlicher Heroin-Junkie gewesen. Andere Männer schlugen womöglich zurück. Und dann hätte sie auch noch Fatima am Hals. Kehkashan am Boden zerstört, Mirchi ein Versager, Kleinkinder, denen man ständig hinterher sein musste, ein Ehemann im Krankenhaus und ein Fieber, das partout nicht wegging, angesichts all dessen hatte Zehrunisa nicht auch noch die Kraft für einen Kampf mit Einbein.
    Zehrunisa gab sich Mühe, Fatima und ihre selbstgebastelte Privatmoral nicht zu verurteilen, sie wusste, die Frau verzehrte sich nach Zuneigung und Respekt. Aber sobald sie an Fatimas Kinder dachte, schmolz ihr Respekt zusammen. Vor kurzem war Fatima mit ihren Krücken so massiv auf die achtjährige Noori losgegangen, dass Zehrunisa und noch eine Frau dazwischengehen mussten. Und dann war da noch die Sache mit Medina, der zweijährigen Tochter von Fatima. Als die Kleine Tuberkulose bekommen hatte, war Fatima besessen von der Idee, sie könne sich anstecken. Und dann war Medina in einem Eimer ertrunken.
    »Ich war weg, zur Toilette, als das passiert ist«, hatte Fatima im Gespräch mit Zehrunisa behauptet. Aber wenn man Wand an Wand wohnte,

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