Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Besuch in Vasai hatte Karam völlig verblüfft eine Gruppe Männer mit Zeitungen in der Hand in einer Teestube sitzen und lebhaft debattieren gesehen. Er stellte sich vor, dass die gerade über diesen Schwarzen in den USA redeten, der Präsident werden wollte. Karam hatte gehört, dass dieser Obama klammheimlich auch Muslim sei, und drückte ihm die Daumen.
Auf den verdreckten Straßen, die sich von der Teestube aufwärtsschlängelten, hatten Hühner durcheinandergegackert, und ihm war sein Heimatdorf eingefallen. Er hatte keine sentimentale Beziehung zu diesem Dorf, diesem ganzen Distrikt, in dem es außer auf den Zuckerrohrfeldern keine Arbeit gab und mehr Kinder starben als irgendwo sonst in Indien. Aber er hatte den Eindruck, dass Slums in unmittelbarer Nähe zur Überflussgesellschaft den Kindern nur Verachtung für ihre Eltern einimpften – »weil wir ihnen die ganzen Markenklamotten nicht bieten können, oder ein Auto«. Er hielt es für ein Glück, dass Mirchi bloß faul war, jedenfalls kein widerspenstiger Erase-X-Schnüffler, aber nach Mirchi waren noch sechs Kinder gekommen. Vasai dagegen kam Karam vor wie der ideale Zwitter aus Dorf und Großstadt: ein Ort, an dem sich Aufstiegschancen und Achtung vor den Eltern nicht ausschlossen.
»Und zumindest würde sie da kein Mensch wegen ihrer Religion beleidigen«, sagte er zu seiner Frau.
Zehrunisa fand es leichtsinnig, ihre Träume für die Zukunft ihrer Kinder an ein Stück Land zu hängen, das sie erst teilweise besaßen und wo es noch nicht mal vier Bambuspfähle und eine Plane gab, unter der man schlafen konnte. »Unser Geisterhaus«, pflegte sie das Grundstück zu nennen. Schließlich hatte sie Karam doch erlaubt, Geld dafür anzuzahlen. Er konsultierte sie bei allen finanziellen Entscheidungen, nachdem es zweimal böse geendet hatte, als er ihren Rat ausgeschlagen hatte. Aber es ärgerte sie, dass er ihr das Grundstück noch immer nicht gezeigt hatte.
»Ich kann dich doch nicht mitnehmen, bei den ganzen Kindern, um die du dich kümmern musst!«, schmetterte er sie jetzt seit einem Jahr ab. Aber inzwischen konnte Kehkashan einspringen, und trotzdem hatte Zehrunisa das Grundstück noch immer nicht zu sehen bekommen. Sie überlegte, ob Vasai seinem Heimatdorf womöglich so ähnlich war, dass er inzwischen schon genauso dachte wie die konservativen Muslime da.
Bevor ihr Mann ins Krankenhaus gekommen war, hatte der Bauunternehmer sie besucht, um die weitere Finanzierung zu besprechen. Zehrunisa hatte ihre Burka übergezogen, Tee serviert und sich dann in eine Ecke gekauert, wie ihre Mutter früher in Pakistan. Verhüllt und unsichtbar für Männer außerhalb der Familie, das war die Art von Leben als erwachsene Frau, mit der sie damals gerechnet hatte. Aber kaum war sie dank der Heirat in Uttar Pradesh gelandet, hatte sie auf den Zuckerrohrfeldern arbeiten müssen – abends, mit lauter Männern. Sie hatte ständig gebetet, dass die Tuberkulose ihres Mannes nachlassen möge, damit sie wieder in Purdah leben konnte. »Ich hab damals nicht mal den Mund aufgekriegt«, erzählte sie ihren Kindern. »Ich hatte schiere Angst vor der ganzen Welt.« Einen Mann zu haben, der in ihrem Namen mit der Welt verhandelte, das hatte sie wunderbar gefunden.
Nach Kehkashans Geburt hatte sie nicht mehr dafür gebetet, wieder in Purdah leben zu dürfen. Sie hielt es für besser, ihre Bitten an Allah zu konzentrieren und Ihn immer nur mit jeweils einem Anliegen zu behelligen. Also betete sie zuerst für Kehkashans Gesundheit, dann, nachdem Abdul in einem Dreckhaufen beim Hotel Intercontinental auf die Welt gekommen war, für die Gesundheit ihres Sohns. Ihr Mann war mit der Familie nach Mumbai gezogen, in der Hoffnung, hier Arbeit zu finden, die nicht so strapaziös war wie Landarbeit. Gefunden hatte er einen Job, der daraus bestand, mit einem gemieteten Handwagen Müll zu Recyclingfirmen zu karren.
Abdul war ein kleiner Trotzkopf – er verweigerte sogar die Mutterbrust, jedes Mal. Trotzdem hatte er überlebt, im Gegensatz zum nächsten Sohn. Dann war Mirchi gekommen, dick und hübsch, und nach ihm noch sechs Kinder, alle gesund. Nichts im Leben hatte Zehrunisa größere Befriedigung verschafft als die Tatsache, dass die Kinder in Sachen Robustheit alle nach ihr kamen und nicht nach ihrem Mann. Und nach Abdul war vom ganzen Rudel keins mehr zu mickrig geraten.
Nicht mehr lange, und einer der jüngeren Söhne würde clever genug sein, ihre Rolle in Abduls Geschäft zu
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