Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
schlackerte ihm noch immer um die Schultern, aber sein Gesicht brachte Fatima und die anderen Nachbarn ins Staunen. Die Einnahmen aus dem Müllgeschäft hatten für zwei Wochen in einer kleinen Privatklinik gereicht, in der Karam statt fauliger Slumluft Sauerstoff zum Atmen gehabt hatte. Er strahlte wie neu. Er sah
naya tak-a-tak
aus, taufrisch.
»Das glaub ich ja nicht«, sagte die Tamilin vom Schnapsladen zu Zehrunisa. »Fehlen glatt zehn Jahre in seinem Gesicht, jetzt. Sieht aus wie der eine Bollywood-Held – Salman Kahn.«
»Das kann man ja wohl erwarten«, sagte Zehrunisa. »Die Klinik da hat zwanzigtausend Rupien gekostet. Aber stimmt schon, richtig jung ist er geworden – fast ein Junge! Ich seh ihn im Augenwinkel und denke, ach du Scheiße, ich hab ja noch ’n Kind, hatt’ ich ganz vergessen. Ich muss ja noch ’ne Heirat arrangieren! Und Allah weiß, ich hab auch so schon genug zu tun mit Hochzeiten.«
Abduls Hochzeit sollte die nächste sein. Die Finanzierung war zwar noch nicht geregelt, aber Zehrunisa und Karam hatten ein passendes Mädchen gefunden, die sechzehnjährige Tochter eines Schrotthändlers in Saki Naka, dem Industrieslum, wo Abdul sein Zeug verkaufte. Das Mädchen war hübsch und ohne erkennbaren Makel. Und, das war die Hauptsache, sie war an dreckige Männer gewöhnt. Dreimal hatte sie die Husains schon besucht, züchtig in einer Burka, ihre jüngere Schwester im Schlepptau. Soweit Mirchi erkennen konnte, war die Jüngere ausgesprochen scharf, er malte ihr zu Ehren ein rotes Riesenherz vorn auf die Familienhütte.
Mirchi wollte unbedingt bald heiraten. Jedenfalls erklärte er seiner Mutter eines Tages, als der Vater außer Hörweite war: »Mutter, ich will genau so ’ne Frau wie dich – die macht die ganze Arbeit, und ich mach nichts.«
Abdul dagegen ging ans Heiraten mit derselben Vorsicht heran wie an alles andere. »Ich hab schon so viel über diese Liebe gehört, ich glaub, ich weiß genau, was das ist, aber fühlen tu ich’s nicht, und ich weiß selber nicht, warum«, murrte er. »Alle Welt kann lieben, aber dann läuft denen die Freundin weg, und die schneiden sich mit ’ner Klinge die Arme auf, die drücken sich ’ne Zigarette in der Hand aus, die schlafen nicht mehr, die essen nicht mehr, aber die singen rum – die müssen ein anderes Herz haben als ich.«
Seinen Eltern erklärte er: »Man fasst ja auch kein heißes Bügeleisen an, oder? Man wartet, bis es kalt genug ist. Man muss das alles langsam angehen.«
»Nein, ich finde, wir sollten ihn schnell verheiraten«, sagte Zehrunisa zu ihrem Mann ein paar Tage nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus. Er hatte sich zu Mittag Fleisch gewünscht, um wieder zu Kräften zu kommen, und sie kauerte mit Lallu an der Brust auf dem Boden und rührte nebenbei in einem Topf, in dem knorpelige Stücke schmorten. »Ich glaub, eine Ehe würde ihn glücklich machen. Er hat so viel Aufruhr in sich – ich glaub nicht, dass er bis jetzt auch nur einen Tag glücklich war in Annawadi.«
»Ist überhaupt jemand glücklich hier?«, gab ihr Mann zurück und angelte in Folie eingeschweißte Prednisolon-Tabletten aus einer Plastiktüte an der Wand. Er hatte all seine Medikamente an einen Haken gehängt. »Bin ich vielleicht glücklich? Lauter drittklassige Leute um uns rum, kein Mensch, mit dem ich was anfangen kann. Hat hier irgendwer auch nur eine Ahnung von dem Krieg der Amerikaner im Irak? Das Einzige, wovon die hier Ahnung haben, ist, was die andern so treiben. Aber ich jammere dir nichts vor. Also, was hat Abdul rumzujammern?«
»Kennst du eigentlich deinen eigenen Sohn? Der jammert doch gar nicht – der macht bloß seine Arbeit und tut, was wir ihm sagen. Aber wieso merkt eigentlich nur seine Mutter, dass er traurig ist?«
»Der wird schon glücklicher, wenn wir erst mal in Vasai wohnen«, erwiderte Karam.
»Glücklicher, in Vasai«, wiederholte Zehrunisa leise. Karam überhörte bewusst den sarkastischen Unterton.
Die kleine Parzelle, die sie im Januar angezahlt hatten, lag anderthalb Stunden von Mumbai entfernt, in einer Gegend mit lauter Firmen für Baubedarf und Recyclingfabriken für Industrieabfälle. In Vasai lebten viele Muslime aus Uttar Pradesh, dem Bundesstaat an der Grenze zu Nepal, in dem auch Karam aufgewachsen war. Ein muslimischer Bauunternehmer hatte ihm davon erzählt, aber der hielt sich so streng an religiöse Traktate, dass Mirchi und Abdul ihn augenrollend den »Imam« nannten.
Bei seinem ersten
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