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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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übernehmen – das Verhandeln mit Müllsuchern, Dieben und Polizisten. Dann würde sie mit Freuden im Haus bleiben. Aber auch wieder in Purdah leben? In letzter Zeit war ihr der Gedanke gekommen, dass das in Vasai womöglich von ihr erwartet wurde. Das würde die herablassende Haltung ihres Mannes verschärfen, die war jetzt schon so aufreizend, dass sie ihn immer mal wieder zusammenstauchen musste.
    »Bloß weil ich nicht lesen kann, spielst du dich bei allen Leuten auf, als wärst du der Held der Familie und ich ein Nichts«, hatte sie neulich geschimpft. »Als ob ich im Mutterleib steckengeblieben wär, wenn du mich nicht rausgeholt hätt’st! Aber spiel du ruhig weiter den Ayatollah, ich bin diejenige, die den ganzen Laden hier schmeißt!«
    Es gab in Annawadi keine auf Sittenstrenge pochenden, konservativen Muslime, deshalb konnte sie, wenn nötig, ihren Ehemann ebenso ungestört zurechtweisen, wie sie arbeiten durfte, um ihre Kinder zu ernähren. Es tat ziemlich weh, solche Freiheiten wieder aufzugeben.
    »Du bist doch im Geist längst nach Vasai gezogen«, sagte sie, füllte das geschmorte Fleisch auf einen Teller und reichte es ihm, alles mit den sparsamen Bewegungen, die einem in engen, übervölkerten Hütten in Fleisch und Blut übergehen. »Warum packst du nicht deine Sachen und ziehst hin. Oder gleich zu den Saudis – ha, da kannst du’s dir gutgehen lassen. Aber hier in diesem Haus leben deine Frau und deine Kinder. Und guck dir das mal an. Du hast dich auch geschämt, als dieser Imam hier war.«
    Die Wände hatten Schwamm und Wasserflecken von der letzten Monsunflut. Die Böden waren uneben, recycelbare Sachen in jeder Ecke, auch unter dem eisernen Bettgestell, das hatten sie erst vor kurzem angeschafft, weil Karam besser Luft bekam, wenn er einen halben Meter über dem ganzen Müll schlief. Selbst wenn er sich beim Schlafen wie eine Fledermaus unter die Decke gehängt hätte: Es gab kein Entkommen vor dem Gestank des Abfalls, den abgestandenen Kochdünsten und den olfaktorischen Spuren von elf Menschen, die nicht mal genug Wasser zum Waschen hatten.
    »Ich würde hier auch gern wegziehen«, sagte Zehrunisa. »Aber wo sollen deine Kinder aufwachsen? Im Geisterhaus?«
    Er sah sie verwirrt an. Gestern Nacht und heute Morgen war sie doch die ganze Zeit die Anschmiegsamkeit in Person gewesen.
    Zehrunisa hatte schon länger einen Plan, und als ihr Mann aus dem Krankenhaus kam, witterte sie einen günstigen Augenblick dafür. Er hatte nichts damit zu tun, wie Mond und Sterne gerade standen. Er hatte zu tun mit der Kürze des Lebens und der Regenpause.
    »Weißt du noch, im Krankenhaus, was du für ’ne Angst hattest?«, fragte sie. »Wie du gegrübelt hast, was wohl wird, wenn du diese Familie verlassen musst?« Er hatte damals gesagt: »Ich fürchte, Gott ruft mich zu sich.«
    Karam nickte und runzelte die Stirn. »Ja, und?«
    »Er hat dich noch mal verschont.« Sie unterbrach sich. »Leg ich mich krumm für diese Familie? Verlang ich irgendwelchen Schmuck von dir?«
    »Nein«, gab er zu, »das tust du nicht.«
    Sie war immer weniger überzeugt, dass sie nach Vasai ziehen wollte, und immer weniger überzeugt, dass ihr Mann den Umzug noch erleben würde. Sie wollte lieber ein hygienischeres Zuhause hier, im Namen der Lebensfreude ihrer Kinder. Sie wollte eine Arbeitsplatte, auf der sie ohne Ratteninvasionen Essen zubereiten konnte – und zwar eine aus Stein, nicht bloß ein irgendwo ausrangiertes Sperrholzbrett. Sie wollte ein kleines Fenster, damit die Kochdünste abziehen konnten, deretwegen die Kleinen schon husteten wie ihr Vater. Sie wollte Keramikfliesen auf dem Boden, solche wie auf der Reklamewand mit den unverwüstlich-schön-unverwüstlichen Fliesen, eben solche, die man richtig schrubben konnte, nicht bloß so Betonbruch, bei dem sich der Dreck in den Ritzen festsetzte. Lauter kleine Verbesserungen, dank denen ihre Kinder gesund bleiben könnten, so gesund, wie Kinder in Annawadi eben sein konnten.
    Sie war noch gar nicht am Ende ihrer Wunschliste, da hatte ihr Mann schon zugestimmt – und eine Verkettung von unglücklichen Zufällen in Gang gesetzt, die zwei Familien für immer beschädigen sollte. Ja, etwas von den Ersparnissen der Husains sollte in ein anständiges Zuhause investiert werden. Schon am nächsten Tag benahm sich Karam, als wäre die ganze Renovierung seine Idee gewesen. Das war typisch. Aber in solchen Momenten ließ eine glückliche Frau ihrem Mann derlei Unfug gern

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