Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
durchgehen.
6. Das Loch, das sie Fenster nannte
D ie Husainkinder begriffen, dass ihre Eltern das mit der Renovierung ernst meinten, denn sie durften zu Hause bleiben, obwohl die Schule wieder angefangen hatte. Die nächsten drei Tage gab es auch für sechsjährige Hände genug zu tun, zum Beispiel die Hütte leer räumen und alles auf den Maidan tragen. Als Erstes musste das verrostete Bettgestell nach draußen, und Karam und Zehrunisa übernahmen persönlich den Schutz ihrer Habseligkeiten vor allen, die vorbeikamen, und sahen zu, wie Abdul die geschwisterliche Arbeitsbrigade dirigierte.
»Meine Küche, endlich!« Zehrunisa schmiegte sich an ihren Mann. Das Kopftuch rutschte ihr auf die Schultern.
»Jetzt guck dir bloß mal Atahar an«, sagte Karam eine Weile später. Der dritte Sohn rührte wild im Zement herum, der bei der drückenden Hitze tagsüber viel zu schnell erstarrte. »Es ist zum Verzweifeln, er hat einfach kein Hirn – geht in die achte Klasse und kann immer noch keine Acht schreiben. Aber schuften kann er. Wie Abdul, scheut keine Arbeit.«
»Ja, der kommt schon klar«, pflichtete Zehrunisa ihm bei. Ihr Sorgenkind war Safdar, der fünfte Sohn. Der war genauso verträumt und unpraktisch wie ihr Mann. Liebte Frösche und schwamm manchmal im Klärteich herum, um sie zu fangen. Danach mochte immer keiner neben ihm schlafen.
Plötzlich stand Mahadeo vor dem Bettgestell. Ashas Mann war schmächtig und verwittert und einsilbig, wenn er nüchtern war, und das war er, seit Asha ein raffinierteres Versteck für ihr Portemonnaie gefunden hatte. In der Hoffnung auf Erlösung aus der qualvollen Nüchternheit bot er den Husains seine handwerklichen Fähigkeiten an, für hundert Rupien.
Abdul, der nicht recht wusste, wie er es anfangen sollte, war dankbar für die Hilfe. In Mahadeos Familie war Asha die Einzige, die ihm auf die Nerven ging. »Ich glaub, die hat ’n Knall mit ihrem Ehrgeiz«, hatte Karam ein paar Abende zuvor zu seinem Sohn gesagt. »Die will im öffentlichen Glanz leben, so als große Politikerin, aber das Privatleben von der ist ’ne wahre Schande. Glaubt die vielleicht, andere Leute kriegen nicht mit, wie die sich abends mit ihrem Mann streitet?« Die Streitereien waren tatsächlich genauso laut wie die von Fatima Einbein und ihrem Mann. Gerüchten zufolge behielt Asha jedes Mal die Oberhand.
Während Mahadeos und Husains Kinder vor sich hin arbeiteten, kamen ein paar von Manjus Schülern neugierig herübergeschlendert. Bestimmt rief Manju sie gleich zum Unterricht, aber bis dahin wollten sie die Husainschen Habseligkeiten mal unter die Lupe nehmen. Auch Erwachsene kamen zum Maidan. Kaum einer hatte die Hütte der Husains je von innen gesehen, aber den Stapeln nach zu urteilen waren diese muslimischen Müllmenschen längst nicht so arm wie angenommen.
In Annawadi wussten viele noch, was die Husains beim Hochwasser von 2005 eingebüßt hatten. Die jüngste Tochter wäre fast ertrunken, Kleider, Reisvorräte und die fünftausend gesparten Rupien waren davongeschwommen. Aber jetzt besaßen sie einen eilig zusammengezimmerten Holzschrank für die Kleider – doppelt so groß wie der von Asha. Einen kleinen Fernseher auf Ratenzahlung. Zwei dicke Baumwollquilts, einer blau-weiß kariert, der andere schokoladenbraun. Elf Edelstahl-Teller, fünf Kochtöpfe. Kardamom und Zimt, und zwar frisch und edler als das, womit die meisten Annawadier würzten. Einen geborstenen Spiegel, eine Tube Pomade, eine große Plastiktüte voller Medikamente. Das verrostete Bettgestell. Die meisten Leute im Slum, sogar Asha, schliefen auf dem Boden.
»Die sind alle neidisch, weil wir unser Haus renovieren«, erklärte Kehkashan einem älteren Cousin, der gerade vom Land angekommen war.
»Sollen sie doch«, rief Zehrunisa, »wir dürfen ja wohl besser wohnen, wo’s uns endlich ’n bisschen besser geht, oder?« Den Fernseher gab sie trotzdem lieber dem Puffbesitzer in Verwahrung, bis die Reparaturarbeiten erledigt waren.
Niemand von den Zuschauern stellte die Frage,
wozu soll man ein Haus reparieren, wenn’s die Flughafenbehörde vielleicht bald abreißt?
Fast alle hier verschönerten ihre Hütten, wenn irgend möglich, nicht nur um es hygienischer zu haben oder besser gegen den Monsun gewappnet zu sein, sondern auch zum Schutz vor der Flughafenbehörde. Denn falls die Bulldozer wirklich kamen, um den Slum plattzumachen, galt eine anständige Hütte als eine Art Versicherung. Die Regierung des Bundesstaates
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