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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Familien sich der Unterhaltskosten für die Witwen entledigten.
    Bei ihrer neuen Aussage gestand Fatima nunmehr, sich selbst angezündet zu haben, und verschob dann sachte die Schuld daran. Sie schilderte, wahrheitsgemäß, dass Kehkashan bei Sonnenuntergang geschworen hatte, ihr das intakte Bein auszurenken. Sie schilderte, auch wahrheitsgemäß, dass Karam gedroht hatte, sie zu verprügeln, und dass er von ihrem Mann die Hälfte der Wand zwischen ihren Hütten bezahlt haben wollte. Zehrunisa erwähnte sie nicht, denn die hatte das denkbar beste Alibi, sie war zum Zeitpunkt der Verbrennung bei der Polizei gewesen. Fatima schob vielmehr die größte Schuld auf Abdul.
    Abdul Husain habe sie bedroht und gewürgt, gab sie zu Protokoll. Abdul Husain habe sie zusammengeschlagen.
    Wie könnte man eine Familie, auf die man neidisch ist, besser erledigen, als dadurch, dass man auf den Sohn dieser Familie zielt, der am meisten arbeitet?
    »Mein linkes Bein ist behindert, ich konnte doch gar nicht zurückschlagen. Und dann hab ich mir vor lauter Wut das Petroleum, das ich da rumliegen hatte, übergekippt und mich angezündet«, beschloss sie ihre Aussage.
    Die Opferbeauftragte Poornima Paikrao fügte ihrem Bericht hinzu: »Aussage erfolgte bei hellem Licht aus Leuchtröhre«, verließ das Krankenhaus und machte sich an ihr eigentliches Werk. Mit dieser verbesserten Opferaussage und ein paar Zeugenaussagen, die sie hoffentlich noch in Annawadi herauskitzeln würde, müsste sich bei den Husains ein hübsches Sümmchen lockermachen lassen.
     
    An ihrem dritten Tag im öffentlichen Krankenhaus verzog sich Fatimas verkohlte Haut, so dass ihre fast mandelförmigen Augen immer runder wurden. Das gab ihrem Gesicht einen überraschten Ausdruck, so als sei sie ganz erstaunt, was für Folgen es haben konnte, wenn sie ein Streichholz anriss. »Je mehr ich rede, desto weher tut’s«, erklärte sie ihrem Mann, der neben dem Bett stand. Sie fühlte sich allerdings, trotz der Schmerzen, hin und wieder genötigt, ihn anzukeifen, wenn auch nicht mehr so gellend wie früher.
    Ihr Mann hatte immer schon ein Gesicht wie eine Schaufel gehabt, jetzt schien es mit jedem Tag noch länger zu werden. Er verfügte wie alle Müllsortierer eigentlich auch über eine hervorragende Koordination, jetzt war er so angeschlagen, dass er zwei linke Hände zu haben schien. Fatimas Pillen zu zermahlen war offenbar eine körperliche Tätigkeit von überwältigender Komplexität. Wenn er etwas von dem Brot, das er ihr mitbrachte, abbrechen wollte, hatte er nur Krümel in der Hand.
    Zum Glück hatte Fatima keinen großen Hunger. Denn Essen gehörte nicht zur Ausstattung des Cooper Hospitals mit seinen fünfhundert Betten, die für eine Million Arme reichen mussten. Medikamente genauso wenig. »Sind schon alle heute«, so die offizielle Erklärung laut Krankenschwestern. Sind aus der Krankenhausapotheke geplündert und weiterverkauft worden, so eine der inoffiziellen. Was die Patienten brauchten, mussten ihre Familien auf der Straße kaufen und mitbringen. Die kleine Tube Silbersulfadiazin-Salbe, die der Doktor bei Brandwunden empfahl, kostete 211 Rupien und war nach zwei Tagen alle. Fatimas Mann musste sich das Geld für eine neue Tube pumpen. Wenn er die Salbe auftrug, hatte er immer Angst, seiner Frau weh zu tun, vor allem an der Stelle am Bauch, die keine Pigmentierung mehr hatte. Er fand, eigentlich könnten die Krankenschwestern ihm helfen, aber die vermieden Körperkontakt mit Patienten.
    Der großgewachsene junge Arzt hatte keine Scheu, Patienten anzufassen. Er kam eines Abends, streckte einen von Fatimas Armen, dann den anderen, und dabei lockerten sich die mittlerweile vergilbten und verschmutzten Verbände.
    »Hier stimmt was nicht«, erzählte sie ihm, »ich friere so.«
    »Trinken Sie drei Flaschen Wasser pro Tag«, antwortete er und wickelte die verunreinigten Verbände wieder fest. Für Wasser in Flaschen hatte Fatimas Mann nach dem Kauf der Brandsalbe kein Geld mehr. Der Arzt sagte hinter seinem Rücken, er sei ein verantwortungsloser alter Mann, wenn er seiner Frau nicht besorge, was sie brauchte.
    Als Fatimas Mann wieder arbeiten ging, um die Medikamente bezahlen zu können, übernahm ihre Mutter die Pflege. Ihr erzählte Fatima: »Die Nachbarsfamilie hat mich angezündet«, und präsentierte eine neue Version der Ereignisse, die ihre Mutter völlig durcheinanderbrachte. Fatima war inzwischen auch durcheinander, hatte aber keine Lust, alles noch

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