Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
einmal zu erklären. Ihre Aufgabe hier war, zu genesen. Sollten sich doch die Polizisten um die Feinheiten ihrer Anzeige kümmern, die hatten Abdul und Karam Husain ja jetzt in Gewahrsam.
Als der Officer mit dem Fischmaul zum ersten Mal den Lederriemen schwang, schrie Abdul auf, bevor er auf ihn niederknallte – es war ein Aufheulen, das sich in ihm zusammengeballt hatte, seit er am frühen Morgen zur Wache gerannt war und sich gestellt hatte.
Als er durch den Flughafen gelaufen war, hatte er noch gehofft, er könnte erklären, was am Abend vorher mit Fatima los gewesen war, oder zumindest seinen eigenen Körper anbieten, um seinen Vater vor Gewalt zu bewahren. Vielleicht, dachte er, halb über dem Tisch hängend, bekam er jetzt die Schläge ab, die sonst auf seinen Vater eingeprasselt wären. Sicher war er nicht. Eins war jedenfalls klar: Die Polizisten hörten überhaupt nicht zu. Sie wollten nichts wissen von hitzigen Temperamenten und einer Scheißziegelwand. Sie wollten anscheinend nur Abduls Geständnis, eine behinderte Frau mit Petroleum übergossen und ein Streichholz angezündet zu haben.
»Sie wird sterben, und das fällt dann unter Paragraph dreihundertzwei«, erklärte ein Polizist, und Abdul glaubte, Freude herauszuhören. Er wusste, § 302 des indischen Strafgesetzbuchs stand für Mord.
Irgendwann später während der Auspeitschung – er hatte keine Ahnung, wie viel später – brachte der Klang einer Stimme sein Empfindungsvermögen wieder zurück. Seine Mutter schien direkt vor dem Raum zu sein, den die Polizisten als Empfangszimmer der Wache bezeichneten. »Tun Sie ihm nicht weh!,« bettelte sie mit beträchtlicher Lautstärke. »Seien Sie friedlich! Seien Sie freundlich!«
Abdul wollte nicht, dass seine Mutter ihn schreien hörte. Er versuchte, sich zusammenzureißen. Bloß nicht auf die Handfesseln gucken. Bloß nicht auf diesen fischmäuligen Polizisten gucken oder auf diese scharfen Bügelfalten in seiner Dienstkhakihose. Er schloss die Augen und versuchte, sich an ein paar Losungen aus seinem letzten Gebet zu erinnern.
Aber alle Anstrengung half nichts, er blieb nicht stumm. Seine Schreie und die Schluchzer danach waren bis auf die Straße zu hören. Trotzdem versuchte er später, als er die glänzenden braunen Schuhe weggehen sah, sich einzureden, er habe keinen Mucks von sich gegeben. Dass seine Mutter ohrenbetäubend laut gejammert hatte, während er geschlagen wurde, war nicht unbedingt ein Gegenbeweis. Bei ihrem Hang zum Jammern hatte sie das wahrscheinlich den ganzen Tag lang getan.
Zum Glück kamen ihre Schmerzenslaute jetzt von weiter weg. Vielleicht hatten die Polizisten sie rausgeschmissen, weil sie so einen Krach machte. Die Anlage um den alten Flachbau herum, in dem die Polizeiwache untergebracht war, war vom Flughafenmanagement verschönert worden – pinkrosa Blumen und Tropengewächse vor dem Eingang, die Blätter so blitzblank wie die daneben parkenden neuen Polizeijeeps. Abdul hoffte, dass seine Mutter möglichst schnell hinter dem Vorgartenstreifen verschwand. Er sah sie in Gedanken lieber zu Hause.
In der großen Zelle, in die sie ihn gesperrt hatten, waren noch sieben Männer, darunter sein Vater, der auch ausgepeitscht worden war, und zwar vor den Augen seines Sohnes. Der Raum sah ganz anders aus als die kargen Zellen in den Filmen, die Abdul in der Videobude in Saki Naka gesehen hatte. Es gab sogar Metallstühle, einen schönen riesengroßen Holztisch mit einer beschichteten Platte und vier neue Stahlschränke – die schönsten, die Abdul je gesehen hatte. Markenschränke, von Godrej. Bronzebraun, himmelblau und rauchblau lackiert. Zwei hatten glänzende Spiegel auf den Türen. Er kam sich vor wie bei einer Schrankausstellung, bis auf die Spannung und die Schreie in dem Raum.
Die richtige Zelle lag irgendwo anders im Gebäude. Der Raum, in dem Abdul und Karam eingesperrt waren, hieß unter Leuten, die öfter mal einsaßen, »die inoffizielle Zelle« – eigentlich war sie ein geräumiges Dienstzimmer für Schreibarbeiten. Und in der Tat waren die Husains offiziell auch nicht festgenommen worden und folglich nicht in Haft. Was sich in diesem Dienstzimmer abspielte, fand offiziell gar nicht statt. Aber das Beste an diesem Raum, nach Meinung aller hier Einsitzenden, war ein kleines Fenster, durch das einem Freunde und Verwandte Zigaretten zustecken und Trost spenden konnten.
Abdul wartete noch immer darauf, dass Sunil oder Kalu der Mülldieb oder
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