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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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irgendeiner der Jungen vorbeikäme und sich erkundigte, wie es ihm ging. Er malte sich aus, was er antworten würde: Nicht gut. Er malte sich aus, wie sie ihn dann beruhigen würden. Aber niemand kam vorbei, außer seiner Mutter. Am dritten Tag hatte er aufgehört, mit irgendjemandem zu rechnen.
    »Warum hast du einem Krüppel so was angetan?« Die Frage stellten die Polizisten immer und immer wieder.
    Abduls klägliche Antwort war: »Sir, ich bin doch so ein Schwächling, ich hätte doch nach den ganzen Schlägen alles zugegeben, aber ich hab das nicht getan. Wir haben uns bloß alle gegenseitig Beleidigungen an den Kopf geworfen.«
    Seine zweite klägliche Antwort war: »Bitte, fahren Sie nach Annawadi und fragen Sie rum. Da waren so viele Leute. Ich hab die Frau nicht angerührt. Ich würd mich nie mit einer Frau prügeln. Schon gar nicht, wenn die nur ein Bein hat. Sie können jeden fragen, ich hab auch noch nie ein Mädchen angemacht. Und ich prügel mich nicht. Ich red überhaupt mit niemandem. Der Einzige, den ich mal anmache, ist mein Bruder Mirchi. Aber den hab ich auch nie geschlagen, auch früher nicht – meinen eigenen kleinen Bruder, und den dürfte ich sogar verhauen.«
    Aber er fürchtete, die Polizisten würden nicht in Annawadi herumfragen. Und daraus ergab sich seine resignierte dritte Antwort: »Sie hat einen Wutanfall gekriegt und sich selbst angezündet. Sie hatte sich ’n bisschen mit meiner Mutter gezankt, und das hat sie dann in die Länge gezogen wie Kaugummi. Aber was soll das denn alles noch hier? Sie hat das und das getan und ausgesagt, und Sie hören jetzt nur noch auf sie, weil sie verbrannt ist. Auf mich hören Sie ja doch nicht.«
    Sein Vater bekam interessantere Fragen gestellt, zum Beispiel: »Wieso hast du bloß so viele Kinder in die Welt gesetzt, Muselmann? Die kannst du ja jetzt gar nicht mehr ernähren und zur Schule schicken. Du bleibst so lange im Knast, bis dich deine eigene Frau nicht mehr erkennt.«
    »Lieber lass ich mich verprügeln, als mit anzusehen, wie du verprügelt wirst«, sagte Abdul eines Nachts zu seinem Vater, als sie aneinandergefesselt schlaflos auf dem Boden lagen, und Karam sagte dasselbe zu ihm. Der ganze heilsame Effekt des Sauerstoffs in der Privatklinik zwei Wochen zuvor war verpufft.
    Neben ihm auf den Fliesen ausgestreckt versuchte Karam seinem Sohn einzureden, die Polizei sei gar nicht wirklich davon überzeugt, dass sie versucht hatten, Fatima umzubringen. Inzwischen, flüsterte er ihm zu, müssten die Beamten zumindest eine Ahnung haben, was da wirklich los gewesen war, bei den Hunderten von Zeugen. Nur war die Frage, was irgendeiner Behinderten im Einzelnen angetan oder nicht angetan worden war, nicht gerade etwas, das Polizisten antrieb. Was die antrieb, erklärte Karam seinem Sohn, war vielmehr das Geld, das sich aus der Tragödie schlagen ließ. »Ihr habt ja wohl dick Kohle gemacht da in Annawadi«, hielt ihm einer der Polizisten immer wieder vor.
    Dahinter steckte das Kalkül, dass Insassen, wenn man sie nur genug terrorisierte, alles Geld, das sie hatten und das sie bei Kreditgebern lockermachen konnten, rausrücken würden, damit aus einer falschen Anschuldigung keine offizielle Strafanzeige wurde. Jemanden in Gewahrsam zu prügeln war zwar ein Verstoß gegen die Menschenrechte und auch verboten, aber es war praktisch, denn es trieb den Preis hoch, den Häftlinge für ihre Freilassung zu zahlen bereit sein würden.
    Die indische Justiz funktionierte also genauso nach Marktgesetzen wie Müll, begriff Abdul. Man konnte Schuld und Unschuld genauso kaufen und verkaufen wie ein Kilo Plastiktüten.
    Abdul wusste nicht genau, wie viel Geld nach der Renovierung und der Krankenhausrechnung für seinen Vater noch da war. Aber er fand, die Familie sollte alles für ihrer beider Unschuld einsetzen. Er wollte nach Hause an den Ort, den er eigentlich hasste.
    »Und wenn Fatima nun morgen stirbt?«, fragte Karam. Abdul wusste, das war keine Bitte um Rat, sein Vater redete nur mit sich selbst. Wenn sie jetzt zahlten und Fatima starb, dann waren ihre Ersparnisse weg, aber die Polizei konnte trotzdem eine Strafakte aufmachen. Wie sollten sie sich dann einen Anwalt leisten? Karam bekam jedes Mal eine merkwürdige Stimme, wenn er das bankrottträchtige Wort
Anwalt
aussprach. Einer der anderen inoffiziellen Häftlinge hatte schon mal einen Prozess gehabt und warnte vor den Mumbaier Pflichtverteidigern, mit einem von denen käme man nie wieder raus.
    Die Tage

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