Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
im Gewahrsam vergingen, und irgendwann schwiegen Abdul und sein Vater sich nur noch an, was Abdul sehr recht war. Was hätte er auch sagen sollen? Dass seine Eltern, wenn sie so paranoid und auf der Hut gewesen wären wie er, den Mund gehalten hätten gegenüber der einbeinigen Irren? Es war schon besser, so zu tun, als seien sie beide zu müde zum Reden nach all den Befragungen durch den Leiter der Ermittlung, Subinspector Shankar Yeram, der, wie Abdul inzwischen fand, weniger fisch- als affenartige Lippen hatte.
Jeden Tag, manchmal zweimal, kam die verhärmte Zehrunisa an das Fenster und erklärte das komplizierte Tarifsystem für die Freiheit von Vater und Sohn. Laut Asha würde es fünfzigtausend Rupien kosten, den Fall aus den Akten zu halten. Nicht dass sie die selbst einstecken würde, natürlich nicht. Sie würde damit die Polizei schmieren und, mit einem etwas bescheideneren Teil, Fatimas Mann ruhigstellen.
Die ersten Tage nach dem Brand war Zehrunisa Asha dankbar gewesen. Asha hatte sich, trotz ihrer politischen Antipathie gegen Muslime und Zuwanderer, sehr für die Husains eingesetzt, und zwar gratis. Sie hatte nicht nur Fatima gedrängt, ihre Falschaussage zurückzuziehen, sie war auch mit Zehrunisa zusammen zur Wache gegangen und hatte den Polizisten nachdrücklich erklärt, dass Fatima sich selbst angezündet hatte. Dieser Interventionsversuch war allerdings schiefgegangen. Ein Polizist hatte sie angeschnauzt: »Wie bitte? Glaubt ihr Frauen vielleicht, ihr seid die Polizei? Haut ab! Wir machen hier die Ermittlungen!« In Annawadi mochte Asha so viel Macht haben, wie sie wollte, jenseits der Slumgrenze war die wohl bedeutungslos.
Durchs Zellenfenster berichtete Zehrunisa ihrem Mann: »Es ist nur so, ein paar Tage lang hat Asha alles umsonst gemacht, aber jetzt sagt sie, ich sitze auf Geld, ich soll endlich mal in die Tasche greifen. Das würde ich ja, damit ihr beide hier rauskommt, aber ich bin gar nicht sicher, dass das klappt, wenn ich ihr Geld gebe.«
Zehrunisa hatte schon Inspector Thokale bezahlt, der vorgeschlagen hatte, sie könne ja jetzt »das Konto ausgleichen«, als sie wegen ihrer Keilerei mit Fatima auf der Wache saß. Nach dem Brand hatte er ihr versprochen, dafür zu sorgen, dass die Ermittlungen »fair« vonstattengehen und ihr Mann und ihr Sohn ohne schwere Verletzungen aus den Vernehmungen kommen würden. »Ich hab ihm gesagt, dafür bezahl ich jede Summe, und ich glaub, dem tun wir wirklich leid«, sagte sie zu Karam. »Der weiß auch, dass das alles abgekartet ist. Der hätte mir viel, viel mehr Geld abknöpfen können.«
Auch die Opferbeauftragte, die Fatimas Aussage im Krankenhaus aufgenommen hatte, hatte Geld haben wollen. Sie war eigens zu Zehrunisa nach Hause gekommen, um ihr mitzuteilen, dass Fatimas Aussage und Zeugenaussagen von anderen Annawadiern bei ihr in sicheren Händen seien. Sie war mit Zehrunisa genauso sanft umgegangen wie mit Fatima und hatte dann achselzuckend gefragt: »Was möchten Sie lieber von mir? Gute Aussagen oder schlechte Aussagen? Ich arbeite für die Regierung, was ich sage, ist ausschlaggebend. Es liegt ganz bei Ihnen, und Sie müssen sich sehr bald entscheiden.«
Zehrunisa sagte zu Karam: »Die ist genau wie Asha. Die erzählt auch, das Geld ist nicht für sie – sie will’s Fatimas Mann geben. Aber dem hab ich schon selbst gesagt, dass ich für seine Töchter sorge und Fatima in eine Privatklinik bringe – ich bezahl das alles, Bett, Medikamente, Essen. Ich hab richtig Angst, dieser Zeugenaussagentante Geld zu geben. Was ist denn, wenn die das Fatimas Mann gar nicht weitergibt und Fatima im Cooper Hospital bleibt?«
»Und was hat ihr Mann zur Privatklinik gesagt?«
»Keinen Ton. Der ist völlig aufgelöst, der kann sich nicht entscheiden. Das ist alles irre. Will der, dass die stirbt und er ’ne neue Frau kriegt? Das Cooper Hospital ist doch bestimmt ihr Tod, und dann ist alles, was wir haben –«
Zehrunisa fiel ein, was Mirchi mal gesungen hatte: »Ja, fahr du nur ins Cooper, da fährst du bald auch
upar.
« Nach ganz oben, in den Himmel. Wenn Fatima tatsächlich die Himmelfahrt antrat, drohten Zehrunisas Mann, Sohn und Tochter mindestens zehn Jahre Gefängnis.
Karam war auch der Meinung, dass sich seine Frau nicht um die Opferbeauftragte kümmern, sondern lieber Fatimas Mann weiter zu der Privatklinik drängen sollte.
»Mach ich ja«, sie fing an zu weinen, »aber du weißt auch, was dann passiert. Diese Regierungstante wird
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