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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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runterbrachte.
    Als Nächstes musste er in ein Büro und als jugendlicher Neuzugang aufgenommen werden. Gnädigerweise standen hier die Fenster offen, und der Anstaltsleiter mit der Glatze und der breiten Brust wirkte zwar angespannt, aber nicht grausam. Erst kürzlich hatte die
Times of India
eine Reportage mit dem Titel: »Dongri – Zu Hause in der Hölle auf Erden« gebracht. Nach Recherchen von Menschenrechtsaktivisten gab es in dieser Anstalt Kinder, die nicht mal Unterhosen hatten und gezwungen wurden, Wasser aus dem Klo zu trinken. Seit diesem Artikel in einer der führenden Tageszeitungen des Landes wurde hastig das eine oder andere verbessert.
    Abdul saß mit ein paar anderen Jungen auf dem Boden hinten im Büro und wartete darauf, dass der Anstaltsleiter ihn aufrief und seine Daten in ein braunes Aktenformular eintrug. An der Wand hinter ihm hingen die Porträts großer indischer Männer, bei dreien der zehn Gesichter kannte Abdul mit einiger Sicherheit auch die Namen. Gandhi natürlich, obwohl der hier einen irreren Blick hatte als auf den Rupienscheinen. Abdul wusste, dass dieser Gandhi sich um arme Leute gekümmert hatte, dass er Muslime genauso mochte wie Hindus, dass er es mit den Briten aufgenommen und Indien befreit hatte. Er erkannte auch Jawaharlal Nehru, den Gründer des Unabhängigen Indien, der eine so Fair & Lovely-helle Haut hatte wie kein Inder, den Abdul im wirklichen Leben je gesehen hatte. Bhimrao Ambedkar hieß der Mann mit der roten Krawatte und der schwarzgerahmten Brille – der hatte für das Recht der unberührbaren Kasten gekämpft, wie Menschen behandelt zu werden. In Annawadi hing sein Bild bei vielen Dalit-Familien vorn an der Hütte, unter einer dicken Staubschicht.
    Alle übrigen Gesichter waren ihm genauso ein Rätsel wie die hinduistischen Götter und Göttinnen, die als Statuen den Schreibtisch des Anstaltsleiters bevölkerten. Abdul war ziemlich sicher, dass Mirchi die Namen von all den großen Indern gewusst hätte. Jungen, die das Glück hatten, zur Schule zu gehen, hatten so ein Wissen einfach im Kopf.
    Nach der Aufnahme wurde Abdul in eine Baracke gebracht und durfte sich zu 122 anderen Jungen auf den kalten Fliesenboden legen. Durch ein Fenster kam das Geräusch von energisch runtergelassenen eisernen Rollläden herein, die Geschäfte des Viertels jenseits der Steinmauer wurden für die Nacht dichtgemacht. Dann war er wohl eingeschlafen, denn das nächste Geräusch, das er hörte, waren durchdringende Gebetsrufe – die Azans zum Sonnenaufgang von den Moscheen ringsum, verstärkt und über Lautsprecher.
Alla-hu Akbar.
Gott ist groß.
    Für Abduls Vater war es respektlos, schmutzig zu Allah zu beten, also verrichtete Abdul die Pflichtgebete nur selten. »Ich hab sogar beim Namaz noch Arbeit im Kopf«, hatte er Kehkashan vor kurzem gestanden. Trotzdem hatte es immer etwas Besänftigendes, wenn die Muezzins die Gläubigen zum Gebet riefen oder durchsagten, dass irgendein verlorengegangenes Kind im grünen Hemdchen in der Moschee darauf wartete, dass jemand es abholte. In der Obhut von Männern mit solchen Stimmen waren bestimmt alle verlorengegangenen Kinder sicher.
    Was Allah selbst betraf, so hatte Abdul sich, in Ermangelung eines tiefen inneren Gefühls für Seine Existenz, im Laufe der Zeit eine Beweisführung nach ökonomischen Kriterien zurechtgelegt. Sie ging so: »Ich bin ja langsamer von Begriff als andere, aber von den schlauen Leuten glauben eine Menge an Allah – die Imame, die Männer, die die Azans rufen, die reichen Muslime, die alle möglichen Wohltätigkeitssachen machen. Würden die sich die ganze Mühe machen und Geld ausgeben für einen Gott, den es gar nicht gibt? So große Leute würden doch nie ihre Rupien verschwenden.« Also gab es definitiv einen Allah, und Er hatte bestimmt einen Grund dafür, dass Abdul hinter Gittern saß für ein Verbrechen, das er gar nicht begangen hatte.
    Ein pockennarbiger Wärter scheuchte die jungen Insassen hoch, händigte Lappen und Eimer aus und schickte sie zu einer langen Reihe Wasserhähne. Hier gab es mehr Wasser als in ganz Annawadi, und Abdul fühlte sich etwas besser, nachdem er sich den ganzen Schweiß seit dem ersten Tag in der Polizeizelle abgewaschen hatte. Aber als er an seinem zweiten Morgen in Dongri den Befehl bekam zu baden, sträubte er sich.
    In Annawadi hatte er sich nicht mal jeden Tag gewaschen, das war doch zwecklos, er war doch, kaum dass er sich abgetrocknet hatte, schon wieder

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