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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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mit Herzen und Lungen sein und finanzielle oder gesundheitliche Probleme haben. Die Welt war anscheinend übervoll von Leuten, die genauso miserabel dran waren wie er, und bei diesem Gedanken fühlte er sich etwas weniger allein.
    Eines Tages erfuhren die jungen Dongri-Insassen zu ihrer Überraschung, dass sie jetzt nachmittags etwas zu tun bekamen, das lag möglicherweise an Menschenrechtsaktivisten, die ständig aufkreuzten und Notizen machten. Sechzig Neuankömmlinge wurden in einem Betonklotz in einen Raum gepfercht, in dem eine Tafel und ein Poster mit Warnungen vor den Gefahren des Rauchens hingen, sie sollten auf den Lehrer warten – einen Menschen, der mit dem rührenden Titel Master angekündigt wurde.
    Als der Master endlich erschien, war Abdul ein bisschen enttäuscht. Der Mann hatte so gar nichts von einem Herrn und Meister. Er war ein pummeliger mittelalter Hindu mit hoch aufgetürmten Haaren, wässrigen rosa Augen, die Abdul an die Augen seiner Mutter erinnerten, und einer Hose, die den Blick auf weite Teile seiner weißen Sportkniestrümpfe freigab. Aber dann fing der Master an zu sprechen.
    Er begann mit einer Geschichte über einen Jungen, der nicht auf seine Eltern hörte und in der Arthur Road endete. Während er all die schrecklichen Dinge aufzählte, die mit dem Jungen im Knast passierten, liefen ihm Tränen übers Gesicht. Er bekam die Einzelheiten kaum über die Lippen, so tragisch war das alles. Dann erzählte er von anderen Jungen: Jungen, die sich nicht an die Gesetze gehalten hatten, Jungen, die anderen Schmerzen zugefügt hatten, Jungen wie die, die er hier in diesem Raum sah. »Wenn ihr meine Jungs wärt – ich sag’s euch ganz ehrlich –, ich hätte euch längst alle weggeschmissen«, sagte der Master. Dann weinte er über ihre Zukunft, die er offenbar vorhersehen konnte.
    Nur ein paar auserwählte Jungen hier würden sich bessern und danach ein bewundernswert gutes Leben führen, sagte der Master. Auf sie warteten Belohnungen. Vor den anderen aber, die weiter ihrer kriminellen Wege gingen, liege ein grauenvolles Leben. Ihre Familie würden sich angewidert abwenden und sie nicht mehr besuchen kommen, und wenn sie irgendwann entlassen würden, als gebrochene alte Männer, würden sie auf irgendeinem Bürgersteig sterben, ungeliebt.
    Der Master weinte über Eltern, die ihre Kinder schlugen, anstatt sich Zeit zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Seltsamerweise weinte er auch über seine Scheidung, darüber, wie schäbig seine Frau seine Mutter behandelt hatte und dass ihm in der Siedlung ein großes Auto abhandengekommen war. Seine Stimmung wurde deutlich heiterer, als er von seiner hübschen neuen Freundin erzählte.
    Immer wenn der Master weinte, sei es über den Verlust seines Autos oder das Schicksal der Insassen von Dongri, fingen auch die Jungen an zu weinen. Abdul hatte noch nie im Leben so geweint wie hier. Es war nicht die Art Tränen, die er nach den Prügeln in der Polizeiwache Sahar vergossen hatte. Diese Tränen hatten etwas Inspirierendes. Abdul hatte noch nie einen so kultivierten und aufrichtigen Menschen erlebt wie diesen Master.
    Er zögerte auszusprechen, was er fühlte, wenn er diesem Mann zuhörte, vielleicht wäre das missverstanden worden. Aber was er für den Master empfand, war ganz intensiv. Dank diesem Mann durfte er Schüler sein.
    Wenn auch kein besonders guter. Er kam nicht ganz hinter den Sinn von diesem hinduistischen Mythos, mit diesem König Shibi, der einem Adler sein eigenes Fleisch zum Opfer dargeboten hatte, das klang zwar so ähnlich wie die Geschichte, die sein Vater ihm immer erzählte, wenn er sich danebenbenommen hatte, von einem anderen König und seinen schurkischen Söhnen und einem Affen. Aber die Königsgeschichte seines Vaters hatte Abdul immer bloß ein schlechtes Gewissen gemacht. Die Worte des Masters dagegen erhellten einen Pfad der Tugend. Sei großherzig und edel. Biete dein Fleisch zum Opfer dar, lass dich bereitwillig fressen von den Adlern dieser Welt, und dir wird beizeiten Gerechtigkeit widerfahren. Das war zwar eine schmerzvolle Art, durchs Leben zu gehen, aber das Happyend kam Abdul verlockend vor.
    Seiner Einschätzung nach hatte er in manchen Dingen durchaus schon Tugend bewiesen. Er hatte sich ferngehalten von Erase-X, Desi-Schnaps, Bordellbesuchen und sonstigen Zerstreuungen, die bestimmt seine Wachsamkeit und seine Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt hätten. Er animierte nie andere Jungen zum Stehlen,

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