Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
weiter verschärft.
Zwei Jungen, die aussahen wie sieben, waren geschnappt worden, als sie in einem billigen Hotel die Fußböden gewischt hatten. Sie erinnerten ihn an seine kleinen Brüder, in ihrer Nähe verspürte er immer eine Art Rührung. Er verstand nicht, wieso der Staat sie ihren Eltern weggenommen hatte. Eine solche Armut, dass man so jung schon arbeiten musste, war doch eigentlich Strafe genug.
In den ersten Tagen in Dongri war Abdul für sich geblieben, auch in Anbetracht seiner Defizite in der Kunst der Konversation, aber dass diese siebenjährigen Kinder eingesperrt wurden, weckte seinen Zorn. »Was bringt das denn, wenn die hier drin sind?«, platzte er eines Tages raus. »Guckt euch doch die Gesichter mal an! So viel Lebenslust, damit kann man ja die Mauern von dem Knast hier einreißen. Die sollen die doch arbeiten lassen, diese Regierungsfritzen, die müssen doch frei sein.«
Ihm war erst in der Haft klargeworden, dass sogar die elende Schufterei in Annawadi, dieser Achselhöhle der Großstadt, Freiheit bedeuten konnte. Er stellte befriedigt fest, dass andere Jungen aus anderen Achselhöhlen das auch so sahen.
Eines Morgens, Abdul war gerade beim Absingen der Nationalhymne, legte eine junge Tamilin ihren zweijährigen Sohn vor das Büro der Anstaltsleitung, weil sie kein Geld hatte, ihn bei sich zu behalten. Abdul konnte sie kaum ansehen – so gramzerfurcht war ihr Gesicht. Dabei war es gar nicht seine Art, Mitgefühl zu entwickeln. Er hatte in Annawadi schon Schlimmeres gesehen und nichts dabei empfunden, so sehr hatten seine Arbeit und seine Sorgen ihn überfordert.
Eines Abends, als er noch klein war, war die Familienhütte eingestürzt, und alle außer Abdul hatten Verletzungen abgekriegt. Seine Mutter sagte immer, sein Egoismus habe ihn gerettet. Sie hatte gerade ein hauchdünnes Scheibchen Fleisch gebraten, und als Karam einen Happen von Abduls Fleisch abgebissen hatte, war Abdul in Alarmzustand geraten. Mitsamt dem Rest seines Scheibchens hatte er fluchtartig die Hütte verlassen, im nächsten Moment waren die Wände zusammengekracht.
Hier in der Gefangenschaft gab es nichts zu bewahren – und nichts zu kaufen oder verkaufen oder sortieren. Irgendwann später wurde Abdul klar, dass die Haft die erste lange Erholungspause war, die er je gehabt hatte, und dass dabei irgendwas mit seinem Herzen passiert war.
Eines Morgens waren er und ein paar andere Jungen in eine kleine Krankenstation gebracht worden, die der Polizei unterstand und in der ein Arzt untersuchen sollte, wie alt verdächtig erwachsen aussehende Jugendliche tatsächlich waren. Das ließ sich durch eine forensische Altersbestimmung genau feststellen, und wer über achtzehn war, kam in die Arthur Road.
Im Untersuchungszimmer wurde Abdul von einem MTA gewogen: 49 Kilo. Er wurde gemessen: 1 Meter 55 . Er musste sich nackt auf einen Tisch legen, seine Schambehaarung wurde für »normal« erklärt, sein Bartwuchs als »halbwüchsig« eingestuft, eine knubbelige alte Narbe über der rechten Augenbraue in der Akte vermerkt. Dann erschien ein Arzt mit dem Untersuchungsergebnis in dem Zimmer. Abdul sei siebzehn, wenn er zweitausend Rupien bezahle, andernfalls zweiundzwanzig.
Abdul fuhr wütend hoch. Er habe keine zweitausend Rupien, und was das überhaupt solle, ein reicher Arzt, der von einem Jungen im Knast Bargeld verlangt? Der Arzt riss entschuldigend die Arme hoch. »Ja, das ist Blödsinn, armen Jungen wie dir Geld abzuknöpfen, aber wir werden vom Staat viel zu schlecht bezahlt, um unsere Kinder großzuziehen. Wir müssen Schmiergeld nehmen,
kamina
werden.« Er lächelte Abdul an. »Für Geld tun wir heutzutage fast alles.«
Abdul konnte sich nicht helfen, aber dieser freundliche Doktor tat ihm leid, erst recht als er nachgab und ihn als Siebzehnjährigen deklarierte. Ein paar Tage später verspürte Abdul sogar Mitleid mit einem Mumbaier Polizisten.
Der Beamte war ziemlich übergewichtig, hatte gerade einen Schwung neuer Kinder im »Children’s Home« abgeliefert und erzählte einem der Wärter von seinen Herzproblemen. »Wenn du denkst, Polizist, das wär ich auch gern, dann irrst du dich, es bringt einen um«, sagte er und schabte sich die Augenbraue. Dann berichtete er von einem Kollegen mit Lungenproblemen und einem mit Krebs und anderen Polizisten mit Stresskrankheiten, und kein einziger verdiene genug Geld, um sich anständige Ärzte zu leisten. Abdul war nie auf die Idee gekommen, Polizisten könnten Menschen
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