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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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schmutzig. Manchmal war er so überfällig, dass seine Mutter ihm einen Lappen ins Gesicht schmiss: »Du Trottel, Frischmachen ist doch was Schönes!« Für andere Leute vielleicht. Er persönlich betrachtete Baderituale nicht nur als sinnlos, sondern als Selbstbetrug. Frisch in den frischen neuen Tag, könnte ja irgendwas Neues passieren! Nein, er begann den Tag lieber mit der Einsicht, dass der genauso öde würde wie die davor. Auf die Weise wurde man wenigstens nicht enttäuscht.
    Abdul erklärte dem Wärter, er nehme kein Bad. Der Wärter erwiderte: »Ohne Bad kein Frühstück.« So seien die Regeln in Dongri. Abdul beschloss, dann lieber zu hungern. Im Nachhinein erschien ihm das als tollkühne Trotzaktion. Aber seit Fatima gebrannt hatte, waren ihm alle Orientierungspunkte fremd geworden. Schmutzig zu sein war ein Relikt aus einem früheren Dasein, an dem er unbedingt festhalten wollte.
    Am dritten Morgen erklärte ihm der Wärter, wenn er nicht bade, kriege er nicht nur kein Frühstück, sondern werde auch wieder in die luftlose Zelle gesteckt, in der er am liebsten kleine Jungen hatte fressen wollen. Er rang sich durch, die Baderegeln von Dongri zu befolgen. Am vierten Morgen waren Knie, Ohren und Hals so sauber wie nie zuvor. Das Frühstück zur Belohnung für seine heroische Kapitulation war allerdings erbärmlich. Reis mit Steinchen drin. Das Brot ekelhaft, wenn seine Mutter so was aufgetischt hätte, er hätte es heimlich in die Tasche gestopft und später den Schweinen hingeworfen. In seiner Baracke saßen vor allem muslimische Jungen – im ganzen indischen Justizsystem waren Muslime überproportional vertreten –, und wenn sie sich zum Essen auf den Boden setzten, lachten sie nur über den miesen Fraß. Diese Anstalt hieß euphemistisch auch »Children’s Home«, die muslimischen Jungen machten daraus
chillar home,
was Kleingeld hieß, praktisch ohne Wert.
    Morgens wurde die Baracke aufgeschlossen und die
chillar
in Umlauf gebracht. Zuerst mussten sie im Kreis im Hof herumrennen, dann die Nationalhymne singen, was sie aus vollem Hals taten. Danach ging es zurück in die Baracke, wo sie auf dem Boden herumhockten und nichts zu tun hatten. Dabei hing im Büro des Anstaltsleiters unübersehbar ein Stundenplan für die Schul- und Berufsausbildung. Abdul war der Widerspruch egal. Was immer die in Dongri mit ihm machten oder nicht machten, hier war er jedenfalls sicherer als in dem Knast in der Arthur Road.
    Seine Mithäftlinge vertrieben sich die freie Zeit mit Geschichtenerzählen und gegenseitiger Rechtsberatung. Einen Rat hörte Abdul immer wieder: »Du musst einfach erzählen, ja, du hast das getan, was die sagen, dann lassen die dich raus.« Die Anwälte, die ab und zu kamen, rieten ihren kleinen Klienten dasselbe. »Gib’s zu, dann ist der Fall erledigt, und du kannst nach Hause.«
    Abdul wollte so dringend nach Hause, dass er ernsthaft erwog zu sagen, er habe Fatima vor ihrem Selbstmord geschlagen. Dass sie jetzt tot war, wollte ihm immer noch nicht richtig in den Kopf, für ihn war sie schon in Annawadi nie richtig lebendig gewesen. Wie viele der Nachbarn hatte auch er mit einem Blick taxiert, wie stark Fatima versehrt war, körperlich und emotional, und sie dann beiläufig einer niedrigeren Stufe der Existenzformen zugeordnet. Aber behindert zu sein, das hatte er bei der Polizei gelernt, war etwas sehr anderes, als tot zu sein.
    Eines Nachts gestand ein Sechzehnjähriger den Mitinsassen, dass er seinen Vater erstochen hatte. Das war Ehrensache, sagte er, der Vater hatte seine Mutter erdrosselt. Aber die Polizei wollte ihm beide Morde anhängen.
    Für Abdul klang das wie eine Kinostory. Die anderen interessierten sich weit weniger für die Schuld oder Unschuld des Jungen als dafür, dass er angeblich aus einer Familie mit viel Geld stammte – mit fünfundzwanzig Lakhs auf der Bank, das waren fünfundzwanzig mal hunderttausend Rupien, rund vierzigtausend Euro. »Jetzt, wo deine Eltern tot sind, bist du doch reich«, hielt ihm einer entgegen. Und selbst als der Vatermörder erklärte, dass er an kein Erbe herankomme, wenn er als Doppelmörder verurteilt werde, schwärmten die anderen Jungen weiter von all den Autos und Klamotten, die er sich doch jetzt kaufen konnte.
    Viele der Insassen waren tatsächlich noch Kinder und saßen hier, weil sie beim Arbeiten erwischt worden waren. Die meiste Kinderarbeit war schon verboten, als Abdul noch klein war, aber die Gesetze wurden immer mal wieder

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