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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Schlussstrich, mit dem Ermittlungsleiter Inspector Maruti Jadhav den Fall Kalu kurzerhand abhakte. Welcher Art die »unheilbare Erkrankung« war, entschied die Pathologie des Cooper Hospitals. Deepak Rai alias Kalu, fünfzehn Jahre alt, war an seiner Tuberkulose gestorben – dieselbe Todesursache wie auf dem Fußanhänger des blutüberströmten Müllsuchers, der auf der Airport Road langsam sein Leben ausgehaucht hatte.
    Lebhafte, über jeden Zaun kletternde Jungen werden aber nicht plötzlich von der Tuberkulose hingerafft. Denn eins wussten Annawadier ebenso gut wie Pathologen: An Tuberkulose stirbt man qualvoll langsam. Kalus Leichnam jedoch, der etwas anderes hätte beweisen können, wurde in Windeseile auf einem Scheiterhaufen des Pariswada Krematoriums auf der Airport Road in Asche verwandelt, die falsche Todesursache korrekt in eine Dienstakte eingetragen. Auf der Akte war anscheinend eine Zigarette abgelegt worden, ein Brandloch ging mitten durch. Danach verschwanden die gemäß Dienstvorschrift zunächst gefertigten Fotos von der Leiche des Jungen aus dem Vorgangsarchiv der Polizeiwache Sahar.
    Diese Polizeiwache war, wie schon Abdul und seine Familie hatten erfahren müssen, kein Ort, an dem man Opfern zu ihrem Recht verhalf und sich der öffentlichen Sicherheit herzlich verpflichtet fühlte. Sie war ein hektischer Bazar, und Ermittlungen zum Tod eines Kalu waren kein profitables Unterfangen. Sein Tod verschaffte der Polizei jedoch einen guten Vorwand, das Flughafengelände von anderen annawadischen Straßenjungen zu säubern.
     
    Nach Kalus Tod wurden fünf Straßenjungen aufgegriffen und in die »inoffizielle Zelle« der Polizeiwache Sahar gebracht. Sie wurden im Namen einer angeblichen Ermittlung geschlagen und wieder freigelassen mit dem Hinweis, wenn sie sich nicht vom immer eleganteren Flughafen fernhielten, könnte auch ihnen eine Mordanzeige drohen. Sie hatten keine Ahnung, dass die Polizei den Mord an Kalu längst als natürlichen Todesfall abgeheftet hatte.
    Einer der Jungen, Karan, floh sofort nach der Freilassung aus Annawadi und überhaupt aus Mumbai und kehrte nie wieder. Ein anderer, Sanjay Shetty, sammelte sofort wie besessen Müll und brachte ihn zu den Husains, um seine eigene Flucht zu finanzieren.
    Zehrunisa stockte der Atem, als sie ihn sah. »Was ist mit deinem Gesicht?«, fragte sie. »Warum weinst du denn?«
    Sanjay war sechzehn und eine Ausnahmeerscheinung unter den Straßenjungen wegen seiner ungewöhnlichen Größe, seiner Schönheit und seines gedehnten südindischen Akzents. »Jedes Wort von dir klingt wie eine Liebeserklärung«, hatte Zehrunisa ihn einmal aufgezogen. »Da schmilzt man ja dahin, so wie du redest.« Jetzt brachte Sanjay kaum ein Wort heraus.
    »Beruhig dich erst mal«, sagte sie. »Komm, was ist passiert.«
    Unter Schluchzen erzählte Sanjay, dass er gesehen hatte, wie eine Bande Männer im Dunkeln vor dem Air-India-Tor über Kalu hergefallen war. Dann erzählte er ihr, wie er selbst zusammengeschlagen worden war, auf der Polizeiwache. Er wusste nicht, wovor er mehr Angst hatte: dass die, die Kalu überfallen hatten, rauskriegten, dass er Zeuge gewesen war, und jetzt auch hinter ihm her waren oder dass die Polizei ihn zur nächsten Runde gewalttätiger Verhöre abholte.
    Auf der buckeligen Straße von Annawadi konnte er nicht mehr schlafen, er wollte zu seiner Mutter, er wusste niemanden, zu dem er sonst hätte gehen können. Die Hütte der Familie am Flughafen war abgebrannt, danach war sie acht Kilometer weiter südlich nach Dharavi gezogen, in Mumbais größten Slum.
    Zehrunisa fand auch, dass Dharavi für einen Jungen, der verschwinden musste, sicherer war als Annawadi. Sie drückte ihm das Geld in die Hand und sah ihm nach, als er davonrannte.
    Als Sanjay in Dharavi ankam, kochte seine vierzehnjährige Schwester gerade Tomatenchutney fürs Abendessen. Anandi fiel fast die Schüssel aus der Hand, als sie sein angsterfülltes Gesicht sah. Die Geschwister waren einander sehr zugetan, Sanjay hatte sich erst vor kurzem, als er ausnahmsweise mal über etwas Geld verfügte, den Anfangsbuchstaben ihres Namens neben seinen auf den Unterarm tätowieren lassen. Anandi schimpfte oft mit ihm, ein Bruder, der seine Schwester so liebe, wie er von sich behauptete, komme öfter nach Hause. Aber die Hütte war nur gut fünf Quadratmeter groß, zu klein für drei Personen, und Sanjay war gern am Flughafen – das gebe ihm so ein Gefühl, dass er eine Chance hatte

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