Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
nicht zu deuten wusste. Der brachte doch bestimmt irgendwelchen neuen Ärger, der konnte den Ärger nur vergrößern, den die Familie bereits hatte.
Nein, sie war wohl selbst schon so paranoid wie Abdul. Der Constable wollte einfach erfahren, wo Kalus Angehörige zu finden seien, und Mahmoud, der behinderte Junkie, hatte ihm erzählt, dass sie das wissen könnte. Zehrunisa war selig vor Erleichterung, bis Nagare den Grund für seine Frage nannte.
»Ist tot, der Junge«, sagte er stirnrunzelnd, und Zehrunisa hatte nicht mal Zeit zum Trauern, als er davonbrauste, denn das Nächste, was sie hörte, war, wie Abdul zusammenbrach.
Den ganzen Monat lang hatte ihr ältester Sohn versucht zu vergessen, was ihm in der Polizeizelle zugestoßen war. Jetzt war in einem einzigen Augenblick etwas tief in ihm Versiegeltes aufgeplatzt. Er wusste nicht mehr, wie man richtig atmet, und gab wilde abgehackte Laute von sich. Kalu, sein einziger sozusagen Freund: tot. Dann würden sie ihn jetzt bestimmt wegen Mordes verhaften. Die Polizei würde ihm eine Falle stellen, genau wie Fatima. »Ich weiß es«, brabbelte er immer wieder. Der Junkie Mahmoud hatte der Polizei bestimmt schon erzählt, dass Abdul am Abend vorher mit Kalu auf der Straße gestanden hatte. Das würde dann als Beweis genommen, und auf der Grundlage würde er verurteilt werden. Es würde wieder Prügel von der Polizei hageln und danach Jahrzehnte im Knast in der Arthur Road. Abdul krümmte sich und schluckte, dann sprang er auf und rannte in die Hütte, aber nicht einmal Kehkashan, die inzwischen auf Kaution entlassen worden war, konnte ihn trösten. Er spürte deutlich, dass er sich wieder verstecken musste, aber diesmal nicht in seinem Müllhaufen.
»Kalu ’s ermordet! Rausgerissene Augen! Sichel im Arsch!«
Ein paar andere, noch nicht ganz so vom Leben traumatisierte Jungen waren losgerannt und hatten sich die Leiche angeguckt, und jetzt schwirrten ihre Berichte durch die Slumgassen.
Sunil wollte das alles nicht glauben, er musste selbst nachsehen. Er lief los, im Zickzack durch den dichten Verkehr auf der Airport Road.
Die anderen Jungen hatten erzählt, Kalu liege in einem Garten, aber in was denn für einem Garten? Nach zwei Jahren ästhetischer Generalüberholung strotzte doch die ganze Flughafengegend unter Führung des Konzerns GVK überall nur so von Blumen. Und auch am Hotel Leela waren doch Gärten, oder? Vor lauter Verzweiflung rutschte ihm im Kopf der Plan seines Flughafengeländes durcheinander.
Als er endlich den richtigen Garten fand, standen dort überall Air-India- und GVK -Manager herum, alle anderen Leute wurden von der Polizei weit abgedrängt. Einer der Jungen hatte erzählt, dass Krähen Kalu die Augen ausgehackt und in die Kokospalmen fallen lassen hatten.
Sunil sah von weitem zu, wie Kalus halbnackte Leiche in einen Polizeitransporter geladen wurde. Und wie der danach wegfuhr. Zum Gaffen war nur noch die Polizeiabsperrung übrig – ein blödes gelbes Plastikband, das sich durch einen Stamm Helikonien zwirbelte, die orangeroten Blüten sahen aus wie aufgerissene Schnäbel von Vogeljungen.
Sunil wandte sich ab und ging nach Hause, vorbei an den mächtigen Stützpfeilern der halbfertigen Hochstraße mitten auf der Airport Road, vorbei an einer Reihe Schilder, auf der die GVK versprach: WIR KÜMMERN UNS WIR KÜMMERN UNS WIR KÜMMERN UNS , vorbei an der langen Betonwand mit der Reklame für unverwüstlich schöne Fußbodenfliesen. Er fühlte sich klein und traurig und unnütz. Wer hatte seinem Freund so etwas angetan? Aber sosehr ihm Schock und Trauer das Hirn vernebelten, so klar sah Sunil die soziale Hierarchie, in der er lebte. Für die Jungen von Annawadi war Kalu ein Star gewesen. Für die Behörden der Oberstadt war er ein zu beseitigender Störfall.
Offiziell galt das Revier, das die Polizei von Sahar bearbeitete, als eins der sichersten im ganzen Großraum von Mumbai. In den letzten zwei Jahren hatte es hier nur zwei Morde gegeben, und dabei gehörten der Flughafen, Hotels, Bürogebäude sowie Dutzende von Baustellenlagern und Slums zu ihrem Revier. Beide Morde waren auch rasch aufgeklärt worden. »Unsere Mordermittlungen sind hundert Prozent erfolgreich«, wie Senior Inspector Patil, der Leiter der Polizeiwache Sahar, gern verkündete. Solche Aufklärungsraten hatten einen kleinen Haken: Bei Morden an irrelevanten Menschen fand so etwas wie Ermittlung nicht statt.
Einer »unheilbaren Erkrankung« erlegen, hieß der
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