Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
Vom Netzwerk:
wegzukommen.
    Er nahm seine Schwester bei der Hand, hockte sich Knie an Knie mit ihr auf den Boden und erzählte ihr, dass er gesehen hatte, wie sich plötzlich eine ganze Gruppe von Männern auf Kalu gestürzt hatte. »Die haben meinen Freund umgebracht«, sagte er immer wieder. »Und dann einfach weggeschmissen.« Als sei er Müll.
    Als Sanjay sich wieder gefasst hatte, hielt er Anandi einen Vortrag: dass sie ihrer Mutter, die noch bei der Arbeit war – sie pflegte eine ältere Dame in einem Mittelschichtviertel –, keinen Kummer machen solle und dass sie ernsthafter lernen solle.
    Seine Schwester sah ihn verblüfft an. »Was redest du denn, Sanjay? Lernen? Ich muss arbeiten und Geld verdienen, genau wie du. Und deinetwegen hat Mutter Stress, nicht meinetwegen.«
    »Du musst auch richtig schlafen.« Er schien sie nicht gehört zu haben. »Ich finde, du schläfst nicht genug.«
    Anandi wusste nicht, was sie vom väterlichen Gerede ihres Bruders halten sollte. Kam so was von Erase-X? Sie stand auf, sie hatte keine Ruhe. Natürlich tat es ihr auch leid, dass dieser Kalu ermordet worden war. Sie hatte ihn in Annawadi mal gesehen, er hatte ihre Kochkünste gelobt und sie zum Lachen gebracht. Aber sie konnte doch hier nicht rumsitzen und Sanjays Hand halten, sie musste sich noch um das Gemüse und den Reis kümmern. Sie ging wieder an den Herd, und Sanjay streckte sich auf dem Boden aus und schloss die Augen, vielleicht um ihr vorzumachen, was er sich unter richtig schlafen vorstellte.
    Als die Mutter eine Stunde später heimkam, war Sanjay schon wieder auf den Beinen, zappelig, und hörte sich ein Stück vom Album
Phir Bewafaai – Deceived in Love
an. »Sanjays Herzschmerz-Musik«, nannte seine Mutter das Duett gern und rollte die Augen.
    »Nur ein einziger Fehltritt«, beteuerte singend der schuldige Ehemann, und seine betrogene Frau schmetterte ihren Racheplan zurück. Plötzlich wurden beide übertönt von Sanjays und Anandis Mutter: »Mir wird schlecht! Äh, das Mittagessen war verdorben!«
    Sie stürzte zum Klo und rief noch: »Warte, Sanjay. Lauf nicht weg.«
    »Tu ich nicht«, versprach er.
    Als die Mutter zurückkam, war Anandi völlig außer sich, und Sanjay wand sich in Krämpfen auf dem Boden. Sie zog ihn hoch, sie vermutete einen Krampfanfall, dann roch sie etwas Chemisches in seinem Atem. Anandi fand eine weiße Plastikflasche in einer Ecke. Sie hatte Sanjay vorher damit herumspielen sehen und gedacht, da sei Seifenlauge drin – Sanjay war verrückt nach Seifenblasen. Aber in der leeren Flasche war Rattengift gewesen.
    Sanjay rollte sich mit dem Gesicht zur Wand, verweigerte das Salzwasser, das seine Mutter angerührt hatte, um ihn zum Erbrechen zu zwingen. Er überlebte die Einlieferung ins öffentliche Krankenhaus nur um zwei Stunden. Als seine Mutter nach Mitternacht nach Hause kam, vor Kummer um Jahre gealtert, warf sie die Rezepte, die der Arzt für Sanjay ausgestellt hatte, in den Gully. Die Zeit hatte nicht mal gereicht, um auf die Straße zu gehen und sie einzulösen.
    Die Nachforschungen zum Tod ihres Sohnes wurden ebenso rasch eingestellt wie in Kalus Fall. Für die Polizeiakten war Sanjay Shetty weder ein gefährdeter Mordzeuge noch ein Opfer der Drohungen und Schläge von Polizisten. Für die war er schlicht ein Heroinjunkie, der sich umgebracht hatte, weil ihm das Geld für den nächsten Schuss fehlte.
     
    In Delhi klagen Politiker und Intellektuelle privatim gern über die »Irrationalität« der ungebildeten Massen in Indien, aber wenn der Staat selbst nur falsche Antworten auf die dringenden Anliegen seiner Bürger gibt, schießen Gerüchte und Verschwörungstheorien aus dem Boden. Und manchmal können Verschwörungstheorien über einen Verlust hinwegtrösten.
    Sunil und Abdul rückten näher zusammen und versuchten zu begreifen, was der Tod von Kalu und von Sanjay zu bedeuten hatte. Es war keine richtige Freundschaft – eher eine nicht benennbare, nicht ganz gewollte Art Beziehung, durch die sich zwei Jungen verbunden fühlten mit zwei anderen Jungen, die nun tot waren. Sunil und Abdul saßen jetzt öfter als sonst zusammen, aber wenn sie redeten, dann klang es seltsam förmlich, wie bei Menschen, denen klar ist, dass viel von dem Gesagten keine Bedeutung hat und viel von dem, was eine Bedeutung hat, nicht sagbar ist.
    Sunil war sich ziemlich sicher, dass die Wachleute von Air India seinen Freund Kalu bei ihren Recyclinghaufen erwischt und ermordet hatten. Abdul hatte eher den

Weitere Kostenlose Bücher