Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Verdacht, dass ihn die Drogendealer umgebracht hatten, die er bespitzeln musste. »Jedenfalls ist er krepiert wie ein Hund«, sagte Abdul oft, und Sunil musste dann immer an die erwürgte Hündin in dem Film mit Will Smith denken, den er mit Kalu im Pinky Talkie Town gesehen hatte.
Mirchi fand, sie sollten alle beide aufhören mit dem Thema. »Klar, der hat bloß Müll geklaut, aber das war der Müll von denen. Der musste ja mal so sterben.«
Die Straßenjungen verdächtigten sich gegenseitig. »Mahmoud – ist mein Tipp, total.« – »Ich glaub, das war Karan, und dann ist er abgehauen.« Allseitiges Misstrauen zog ätzend durch die Slumgassen. Vielleicht hatte Fatimas Geist damit zu tun, vielleicht auch nicht.
Für Kalus Vater war die Frau mit dem Imbiss auf der Airport Road schuld, wo Kalu sich oft Chili-Huhn-Reis gekauft hatte. Die hatte doch ihre Ohren überall, und er hatte gehofft, dass sie ihm erzählte, was wirklich passiert war. Aber sie hatte nur zurückgefragt: »Kalu was? Kalu wer?« Und in ihren Kochtopf gestarrt. Nachdem ihm die Polizei und die Pathologie die Wahrheit über den Tod seines Sohnes verweigerten, gab er vor allem der Chili-Huhn-Reis-Frau die Schuld.
Sanjays Mutter wusste nicht, wem sie die Schuld geben sollte. Nach dem Selbstmord ihres Sohnes ging sie wochenlang auf wackeligen Beinen durch Annawadi und fragte alle Leute, an denen sie vorbeikam, ob sie ihr erklären könnten, warum ihr Sohn sich das Leben genommen hatte. »Wie soll ich denn schlafen, solange ich das nicht weiß«, fragte sie ihre Tochter. »Mir dreht sich die ganze Welt im Kopf, aber ich finde nirgendwo einen Sinn.«
Sunil und die anderen Straßenjungen waren erschüttert, als sie sie so sahen. Sie kannten sie noch aus der Zeit, bevor sie nach Dharavi gezogen war. Dass sie jetzt aussah wie dreihundert Jahre alt, zeigte doch nur, dass sie ihren Sohn sehr geliebt hatte. Aber wie sollten sie ihr Sanjays Tod erklären, ohne über Kalus Tod zu reden, ohne über die Polizei von Sahar zu reden? Selbst der Tamile mit der Spielbude, der innigen Kontakt mit der Polizei pflegte, hatte Angst, Kalus Namen auszusprechen. Und so erfuhr Sanjays Mutter nur das, was eine andere auf der Straße lebende Mutter ihr zuzuflüstern wagte: »Dein Junge ist an Angst im Herzen gestorben.«
Es war guter Lehmboden vor dem rot-weißen Air-India-Tor. Und dank der liebevollen Fürsorge des flughafeneigenen Gärtnerteams wuchs nach und nach die jungengroße Lücke in dem Blumenbeet wieder zu. Eines Nachmittags ging Sunil davor in die Hocke und sah sich die Erdschicht genauer an. Er fand keine Spur von Beschädigung.
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Teil Vier
Nichts wie weg
Mach dich nicht verrückt mit
dem Gegrübel über irgendwelche Horrorleben.
Zehrunisa Husain
12. Neun Nächte Tanz
E nde September 2008 hatte Asha ganz Annawadi unter ihrer Kontrolle. Es war ohne besondere Zeremonie, ohne Krönung zum Slumboss vor sich gegangen. Es hatte sich eher entwickelt aus lauter kleinen Geländegewinnen, bis eines Tages die Bittsteller sogar draußen vor ihrer Hütte Schlange standen, Polizisten sofort zurückriefen und Bezirksrat Subhash Sawant, wenn er mal wieder eine Rede an die Bürger hielt, ihr den Plastikgartenstuhl direkt neben seinem anbot. Ihr Chef hatte sein Selbstbewusstsein zurückgewonnen, nachdem der Fall mit seinem gefälschten Kastennachweis anscheinend bei Gericht versandet war. Neben ihm auf dem Betonplafond am Klärteich zu thronen machte Asha ihm beinah ebenbürtig, sie trug auch eine sehr ähnliche Goldkette zur Schau. Das Geld für ihre stammte aus ihrer Selbsthilfegruppe und den Krediten, die sie ärmeren Frauen zu hohen Zinsen gewährte.
Dank der neuen Machtposition war Asha so gelassen, dass sie sich gegenüber ihrer Familie gar nicht mehr um schlaue Ausreden bemühte, wenn sie sich spätabends mit Männern traf. Als ihr Mann mit Selbstmord drohte, redete sie ihm zwar gut zu, aber sich anders zu benehmen, versprach sie nicht. Sie gönnte sich zehn Kilo Gewichtszunahme, und so wurden die scharfen Linien unter den Augen – eine letzte Spur der jahrelangen Feldarbeit – weicher.
Richtig bedauerlich fand sie eigentlich nur, dass sie keine Vertraute hatte, mit der sie diesen jüngsten Triumph gemeinsam auskosten konnte. Ihre Geheimniskrämerei isolierte sie von anderen Frauen, gewisse Türen hatte sie sogar von sich aus zuschlagen müssen. »Wer ist denn hier wirklich meine Freundin?«, fragte sie Manju manchmal. Aber sogar ihre Tochter schien sich
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