Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
von ihr entfernt zu haben. Und wenn sich, selten genug, doch einmal ihre Blicke kreuzten, brachte Manju stets ein Thema auf, das Asha am wenigsten mochte, Einbein.
Während Kalus und Sanjays Tod die Jungen, die auf der Straße lebten, erschütterte, spukte Fatimas Tod den Frauen von Annawadi im Kopf herum. In den zwei Monaten seit ihrer spektakulären öffentlichen Selbstverbrennung hatte er sich in unzähligen privaten Erzählungen eingenistet. Dass Fatima noch bereut hatte, was sie getan hatte, war inzwischen vergessen, ihre Tat zum glühenden Protestakt umgewidmet worden.
Wogegen sie genau protestiert hatte, war Gegenstand unterschiedlicher Interpretationen. Für die ärmsten Frauen war ihre Selbstanzündung eine Reaktion auf die nervenzehrende Armut. Für die behinderten Frauen war sie eine Antwort auf den Mangel an Respekt gegenüber körperlich versehrten Menschen. Für die unglücklich verheirateten Frauen, und deren Zahl war Legion, war sie eine heldenmutige Anklage gegen repressive Beziehungen. Von Neid, einer Steinplatte, einer hingepfuschten Wand oder in Reis gefallenen Putzbrocken war fast nie die Rede.
Eines Abends begoss sich die Frau des Puffbesitzers auf dem Maidan mit Petroleum, rief laut Fatimas Namen und drohte, ein Streichholz anzureißen. Eines anderen Abends tat eine andere von ihrem Mann verprügelte Frau es tatsächlich. Sie überlebte, aber in einem so schlimmen Zustand, dass Manju und ihre Freundin Meena bei ihren heimlichen abendlichen Treffen an der öffentlichen Toilette narrensicherere Selbstmordmethoden erörterten.
Nur Meena wusste, dass auch Manju schon daran gedacht hatte, sich das Leben zu nehmen, nicht nur an jenem Abend, als ihre Mutter einfach von der Feier ihres vierzigsten Geburtstags weggelaufen war, sondern auch danach. Manju verzehrte sich vor Scham und Sorgen über Ashas Affären, aber Meena konnte ihr nichts anbieten als einen anderen Blickwinkel. Sie selbst wurde ständig und mit aller Gewalt von ihren Eltern und ihren älteren Brüdern geschlagen, und die einzigen großen Ausflüge, bei denen sie der täglichen Haushaltsfron entrinnen durfte, waren der Gang zur Wasserpumpe und zum Klo. Meena fand, dass man einer Mutter, die der Tochter eine Collegeausbildung bezahlt, sie nur selten schlägt und nicht schon mit fünfzehn zwangsverheiratet, andere Schwächen nachsehen konnte.
Sie redete Manju zu, alles auszusprechen, auch die schlimmsten Gedanken. Angeblich war das die moderne, gesunde Methode, damit fertig zu werden. »Du sagst doch immer, dass bei mir die Blumen im Haar nie glibberig und braun werden«, erklärte sie ihr eines Abends bei der Toilette, »bei mir halten sich die Blumen einfach, weil ich nichts Dunkles im Herzen behalte. Ich lasse alles Schlimme raus an die Luft.«
Manju zuckte zusammen. Sie wollte lieber nicht, dass noch mehr vom schlimmen Benehmen ihrer Mutter in der Luft herumschwirrte als jetzt schon. »Dann hab ich wohl ein schwarzes Herz«, erwiderte sie ausweichend. »Bei mir im Haar sind die nach zwei Stunden hin.«
Manju fand die Methode Verleugnung klüger, von der sie im Psychologiekurs erfahren hatte – einfach Schluss mit den Grübeleien über ihre Mutter. »Wenn ich nicht schaffe, das abzublocken, kann ich nicht mehr lernen«, sagte sie. Bis zu den Prüfungen, die darüber entschieden, ob sie Annawadis erste Collegeabsolventin wurde, waren es nur noch ein paar Monate.
Auf der Grundlage seiner Theorie des Unbewussten erklärt uns Freud, dass eine Phantasie ein unbefriedigter Wunsch ist, der sich in der Imagination erfüllt. Er unterteilt Phantasien in zwei Hauptgruppen:
ehrgeizige Wünsche
erotische Wünsche
Junge Männer haben zumeist ehrgeizige Wünsche. Junge Frauen haben zumeist erotische. Normale Menschen empfinden Scham wegen ihrer Phantasien und halten sie verborgen.
Während sie auswendig lernte, was die Psychologielehrerin zusammengefasst hatte, wurde ihr bewusst, dass sie noch ein anderes schmerzhaftes Thema abblocken musste: Vijay, den Mittelschicht-Helden vom Zivilschutzkorps, der einmal ihre Hand genommen hatte. »In meinem nächsten Leben kannst du meine Frau werden«, hatte er ihr kürzlich mitgeteilt. »In diesem nicht.«
Ende September war für viele junge Frauen in Annawadi die Saison der romantischen Schwärmerei. Die Navratri-Feiertage, das alljährliche Festival des Flirts, standen vor der Tür.
Die Jungen des Slums freuten sich am meisten auf andere Feiertage, den Holi und den Haandi. Am Holi
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