Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
bewarfen sie sich mit Luftballons, die mit gefärbtem Wasser gefüllt waren, und am Haandi stiegen sie sich gegenseitig auf die Schultern und warfen sich per Bauchklatscher in den Matsch. Die Mädchen des Slums durften sich nicht im Matsch wälzen. Für sie war Navratri – die neun Nächte Tanz –
das
Fest, da waren sie den Jungen ebenbürtig oder sogar überlegen. In diesen Nächten am Ende der Monsunzeit, so hieß es, zog die Göttin Durga in die Schlacht gegen das Böse im ganzen Universum und triumphierte am Ende. Navratri war die Feier des Weiblich-Göttlichen, und sogar Meena durfte mit elterlicher Genehmigung tanzen und glänzen.
Letztes Jahr hatten Meena und Manju sich am ersten Abend stundenlang schön gemacht. Ein dunkelblauer Sari für Manju, den sie sich gut erlauben konnte, seitdem sie Brüste und Hüften hatte wie ihre Mutter. Eine schicke rote Salwar Kamiz für Meena, die immer noch ein Hälmchen war, egal wie viele Good-Day-Kekse sie wegfutterte.
Meena musste sich sehr anstrengen, von Manju nicht geblendet zu sein: diese Figur, diese helle Haut, diese Fähigkeit, aufrecht und mit eingezogenem Po vollkommen ruhig dazustehen. Sie selbst hielt sich eher krumm und zappelte herum. Nur wenn sie den Kopf in den Nacken warf und ihre Zähne beim Lachen strahlten, war sie schön, aber von einer eindringlicheren Art. Dann sah sie aus wie diese Mädchen, mit denen man die aufregendsten Dinge erleben kann. Aber aufregende Dinge passierten dann doch nie – schon gar nicht beim Navratri 2007 . Manju und Meena waren am ersten Tanzabend zusammen zum Maidan spaziert und beim letzten Wolkenbruch dieser Monsunsaison sofort klitschnass geworden. Der einzige Ort ohne Matsch war der Betonplafond am Klärteich. Direkt daneben campierten die streunenden Schweine und schwitzten den viel zu langen Monsun aus.
Navratri 2008 konnte nur besser werden, denn diesmal hatte Asha die Choreographie übernommen. Sie wusste, was die neun Nächte den Mädchen bedeuteten. Sie wollte eine Band, einen DJ mit richtig lauten Boxen, einen riesigen Pandal für ein Abbild der Göttin Durga und Lichterketten kreuz und quer über dem Maidan, unter denen getanzt werden sollte. Die Anführer sowohl der Shiv-Sena- als auch der Kongresspartei hatten Geld springen lassen für das extravagante Spektakel. Wieder mal rückte eine Wahl näher, und Millionen Slumwähler, die man für sich einnehmen konnte, sorgten für Spendierlaune in der politischen Klasse der Stadt.
Die Annawadier ihrerseits brauchten dringend etwas Ausgelassenheit und Zerstreuung, denn die Rezession, die im Westen begonnen hatte, kam langsam auch in Indien an. Die einst so profitable Anbindung an die globalen Märkte bescherte plötzlich auch Slumbewohnern heftige Einbrüche. Die Preise für Recyclinggüter sanken. Die Zeitjobs auf den Baustellen versiegten, weil die während des Monsuns unterbrochenen Projekte mangels ausländischer Investoren weiter brachlagen. Gleichzeitig schossen infolge schlechter Ernten wegen der Dürren in Vidarbha und anderen wichtigen Landwirtschaftsregionen die Preise für Nahrungsmittel in die Höhe.
Die Antwort von Politikern auf solche Nöte – DJs und bunte Lämpchen – war in Mumbai altehrwürdige Tradition. An Feiertagen vor Wahlen leuchteten die Slums der Stadt plötzlich so hell wie die Viertel der Wohlhabenden mit ihren
pucca
-Gebäuden aus solidem Stein, machten aber zehnmal so viel Lärm. Meena freute sich unbändig auf Bands, Boxen und blinkende Lichter. Dies war ihr letztes Navratri-Fest, bevor sie in ein Leben aufbrechen musste, vor dem ihr graute, als Teenagerbraut in einem Dorf in Tamil Nadu.
Meena war einmal stolz darauf gewesen, das erste in Annawadi geborene Mädchen zu sein. Jetzt bereitete sie sich darauf vor, aus Mumbai wegzugehen, und stellte verärgert fest, dass Hausarbeit in einem Slum das Einzige war, was sie in ihrer Stadt kennengelernt hatte. In Annawadi konnte ein Mädchen putzen, soviel es wollte, nichts blieb sauber. Warum hatte dann immer das Mädchen angeblich versagt? Warum schrie ihre Mutter sie an, dass sie zwei Stunden vergeudete, wenn sie wie alle anderen morgens vor der tröpfelnden Wasserpumpe Schlange stehen musste?
Im Fernsehen zeigten sie doch dauernd ein neues, besseres Indien für Frauen. Meenas tamilsprachige Lieblingssoap handelte von einer jungen Frau, die Schulbildung hatte und in einem Büro arbeitete. In ihren Lieblingsspots machte Asin, eine Filmsirene aus Südindien, außer für Mirinda
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