Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Orange auch Reklame für mehr Spaß im Leben, ein kleines bisschen Wildheit.
Aber für Meena schien der Weg zu diesem neuen Indien der quirligen, auf Konventionen pfeifenden Frauen versperrt zu sein. Vielleicht schaffte es Manju dorthin, mit ihrem Collegediplom. Meena wusste es nicht genau, sie kannte keine einzige Frau, die einen Collegeabschluss hatte. Aber wenn sie die Seifenopern und die Mirinda-Werbung so ansah, hatte sie manchmal das Gefühl, ihr ganzes Dasein sei bloß eine Art Spreu vom Lebensweizen. Über sie wurden Dinge einfach verhängt – die regelmäßigen Prügel, jetzt diese Verlobung und baldige Heirat. Was durfte sie eigentlich je selbst bestimmen?
Vor kurzem hatte sich ein Junge, nicht ihr Verlobter, in sie verliebt. In Seifenopern war so etwas hochdramatisch. In Meenas engem Leben bedeutete es eine kleine, aber willkommene Ablenkung. Der junge Mann war ein Freund ihres älteren Bruders. Er wohnte in einem Nachbarslum, war Fabrikarbeiter und wollte sich demnächst irgendwo am Persischen Golf als Putzmann verdingen – seiner Meinung nach die einzige Möglichkeit, genug Geld zu verdienen, um später mal Frau und Kinder ernähren zu können. Eines Abends, als er ihren Bruder besuchte, steckte er Meena seine Telefonnummer zu. Ein paar Abende später ging sie in die Telefonzelle und rief ihn an. Bei ihrem siebten oder achten verbotenen Telefongespräch sagte er, sie sei seine Zukünftige, für die er die Mühen auf sich nehme.
Das war zu viel des Flirts. Meena reagierte mit Anstand, wie sie fand: »Dass du mich liebst, ist in Ordnung. Darüber freue ich mich auch. Aber ich werde bald mit jemand anderem verheiratet, du darfst mich nur als Freundin sehen.«
Manju war erleichtert, als sie es erfuhr, denn Meena war leicht durchschaubar und ziemlich untalentiert für Heimlichkeiten. Zweimal hatten ihre Brüder sie schon beim Telefonieren erwischt und geohrfeigt.
»Und außerdem«, erinnerte Manju sie, »hast du letzten Monat noch behauptet, du magst den Dorfjungen.«
Meena mochte den Jungen durchaus, er rief sonntags immer an. Er wusch sogar seinen Teller selbst ab – zu Meenas und Manjus Erstaunen, denn er hätte es seiner Schwester auftragen können. Der Junge war nicht das Problem. Das Problem war eine arrangierte Heirat mit fünfzehn.
Meenas Vater schwärmte von dem Gefühl, das sie doch jetzt als Verlobte haben müsse: »Wenn sich eure Herzen zum ersten Mal treffen, wird alles andere unwichtig.«
Manjus Vater sah die Sache zynischer: »Keine Ehe ist glücklich, wenn sie erst mal vollzogen ist. Glücklich ist man nur vorher, wenn man an sie denkt.«
Aber Meena verspürte keinerlei Vorfreude. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie die Liebe ihre Alltagsroutine verändern sollte. Und wenn nun nach der Heirat nur ein endloses, noch beengteres Erwachsenenleben kam, als ihre Kindheit schon gewesen war?
In eine Dorffamilie hineinzuheiraten kam sowohl Meena wie Manju vor wie eine Zeitreise rückwärts. Die Kunbis in Ashas Dorf hielten Dalits wie Meena noch immer für verseucht: unhygienische Menschen, die an den Ortsrand verbannt und bei Kunbis zu Hause nur als Müllabholer oder Abflüssereiniger geduldet wurden. Wenn ein Dalit eine Tasse in ihrem Hause berührte, musste sie vernichtet werden. Sie wären entsetzt, wenn sie sähen, wie Manju sich an ihre Freundin schmiegte, oder mitbekämen, dass die beiden sich einen himmelblauen Sari teilten.
Manju hatte ihn beim maharashtrianischen Neujahrsfest im letzten Frühjahr angehabt. Meena hatte ihn, mit fast plisseeartigen Falten, zum tamilischen Neujahrsfest getragen. »Wenn ich ihn wickele wie du, fühl ich mich zu flauschig und bauschig«, hatte sie Manju erklärt. Auch bei ihrem letzten Navratri-Fest in Mumbai würde sie ihn anlegen dürfen.
»Ich fürchte, meine Mutter will mich mit diesem Dorfsoldaten verheiraten«, erzählte Manju eines Abends bei der Toilette, wo die beiden dem Slum demonstrativ den Rücken zukehrten. Seit der Reise in Ashas Heimat Vidarbha stichelte Rahul, Manju werde ihre Zukunft auf dem Land verbringen. »Da musst du immer den Kopf bedecken und für deine Schwiegermutter putzen und kochen, und dein Mann ist weg bei der Armee, und du bist ganz einsam.«
»Was machst du denn, wenn deine Mutter wirklich so ’ne Heirat arrangiert?«, fragte Meena.
»Ich glaub, dann hau ich ab zu meiner Tante. Die würde mich beschützen. Wie soll ich denn mein ganzes Leben so verbringen?«
»Vielleicht wär’s wirklich besser, man macht
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