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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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alles raus.« Mit schweißverklebtem Gesicht und auf wackeligen Beinen ließ sie sich von ihrer Mutter in die Hütte bringen, damit sie dort die Wirkung des Gifts wegschlafen konnte.
    Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, atmeten die Frauen der Slumgasse auf. Weibliche Diskretion hatte eine Szene verhindert und womöglich eine Hochzeit gerettet. Meenas zukünftige Schwiegereltern bekamen vielleicht gar nicht mit, dass sie eine widerspenstige Braut ausgesucht hatten.
    Der Mann zwei Hütten entfernt jedenfalls verkaufte ahnungslos weiter Milch und Zucker. Die Bauarbeiter kamen von der Arbeit und latschten durch seifiges grünes Erbrochenes. Wie durch einen Vorhang aus Erschöpfung fiel Manju wieder ein, dass es inzwischen Abend wurde und sie nicht aufgelöst vor der Hütte ihrer Freundin herumstehen sollte. Sie musste sich das Gesicht waschen und die Göttin herbeischaffen.
    Manju zog mit Asha los, um Durga zu holen, im selben Moment kam Meenas älterer Bruder nach Hause. Als er erfuhr, dass sie Rattengift genommen hatte, verprügelte er sie. Meena legte sich weinend schlafen. Kurz vor Mitternacht fing sie wieder an zu weinen. Irgendwann fiel ihrem Vater auf, dass das Weinen nicht mehr traurig klang.
    An diesem ersten Navratri-Abend tanzten alle jungen Leute von Annawadi außer Manju auf dem illuminierten Maidan, während Meena in einem Bett im Cooper Hospital die Fragen eines Polizisten beantwortete. Hatte irgendjemand sie zu dem Selbstmordversuch angestiftet? »Ich werfe niemandem etwas vor«, sagte Meena. »Es war meine eigene Entscheidung.«
    Am dritten Navratri-Abend stellte Meena das Sprechen ein, daraufhin knöpften die Ärzte ihren Eltern fünftausend Rupien für angeblich »importierte Spritzen« ab.
    Am sechsten Tag des Navratri-Fests war Meena tot.
    »Sie hatte die Nase voll von dem, was die Welt ihr zu bieten hatte«, lautete das Fazit der Tamilinnen. Meenas Familie beschloss nach einiger Überlegung, dass der Einfluss von Manju und ihrem modernen Zeug schuld war.
    Die Lichterketten vom Navratri-Fest wurden abgenommen. Rahul versuchte, Manju wieder zum Lachen zu bringen, und fand, dass sie immerhin ein bisschen gelächelt hatte, als er ihr erklärte, Meenas kleiner Bruder habe auch etwas verloren: »Der Junge will garantiert nie wieder ’n Omelette.«
    Morgens, in einem bestimmten Licht, konnte Manju den Namen MEENA sehen, als schwache Spur auf einem Zementbrocken gleich neben der öffentlichen Toilette. »Nur in dem Licht«, sagte sie, »und selbst dann ist er kaum zu erkennen.« In Annawadi lebte eine zweite, nicht so bedeutende Meena, und ein Mann, der jene Meena liebte, hatte sich einmal ihren Namen in den Unterarm geritzt. Manju vermutete, dass er es war, der MEENA in den feuchten Zement geschrieben hatte. Das wäre einleuchtend. Aber noch etwas anderes glaubte sie lieber, nämlich dass Meena die Buchstaben mit ihren eigenen Fingern geformt und dass das erste in Annawadi geborene Mädchen eine kleine Spur von sich an diesem Ort hinterlassen hatte.

13. Etwas Glänzendes
    I m November befand sich der Müllmarkt im freien Fall, der tamilische Spielbudenbesitzer versuchte, den Müllsuchern begreiflich zu machen, warum ihr Krempel nur noch so wenig wert war. »In Amerika haben die Banken Verluste gemacht, dann haben die oberen Zehntausend Verluste gemacht, und dann ist der Schrottmarkt in den Slumgegenden auch eingebrochen.« Das war seine Erklärung der globalen Wirtschaftskrise. Das Kilo leere Wasserflaschen, das früher fünfundzwanzig Rupien gebracht hatte, war jetzt nur noch zehn wert, das Kilo Zeitungspapier für früher fünf Rupien brachte jetzt nur noch zwei: so viel zur globalen Krise.
    In den Zeitungen, die Sunil sammelte, stand, dass jetzt schon viele Amerikaner im Auto oder im Zelt unter den Brücken lebten. Selbst Mukesh Ambani, der reichste Inder, hatte Geld eingebüßt – Milliarden –, allerdings nicht so viel, dass er die Bauarbeiten an seinem berühmten, siebenundzwanzig Stockwerke hohen Wohnhaus im Mumbai eingestellt hätte. Die unteren Etagen waren seinen Autos und den sechshundert Dienstboten vorbehalten, die seine fünfköpfige Familie unbedingt brauchte. Für junge Slumbewohner entschieden spannender war, dass Ambanis Hubschrauber auf dem Dach landen sollten.
    »Wird bald wieder besser«, erklärte Abdul Sunil und den anderen Müllsuchern, das hatte sein Vater gesagt. Sicher, die globalen Märkte waren volatil, aber das Verhalten von Touristen war berechenbar. Im Winter

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