Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
eine Hand entgegen. Darin lag eine leere Tube Rattengiftpaste.
Sie sah Manju in die Augen, und Manju stürzte in die Hütte, wo Meenas Mutter gerade den Reis für Idlis stampfte. Die Worte brachen wie ein reißender Strom aus ihrem Mund –
Rattengift, Meena, töricht, muss sterben.
Meenas Mutter stampfte weiter Reis. »Beruhig dich. Ist bloß Schau«, sagte sie. »Vor’n paar Wochen hat sie schon mal erzählt, sie hat Gift geschluckt, aber nichts ist passiert.«
Meenas Mutter hatte die Nase voll. Offenbar brachte die Aussicht auf Tanz ihre Tochter um den Verstand. Sie war nachts um zwei beim Telefonieren mit diesem Stadtjungen erwischt worden und hatte eine Tracht Prügel bekommen. Sie hatte mittags ihrem kleinen Bruder einfach kein Omelette gemacht, sondern erklärt, sie faste und wolle nicht in Versuchung geführt werden. Die nächste Tracht Prügel. Ihr Bruder wollte ihr gerade die dritte Tracht Prügel des Tages verpassen, weil sie außerhalb der Hütte herumsaß, da hatte sie ihnen die Geschichte mit dem Gift aufgetischt.
Einen Moment lang war Manju beruhigt. Andererseits, wenn Meena tatsächlich eine Schau abzog, hätte sie Manju nicht eingeweiht? Sie ging wieder nach draußen, beugte sich hinunter und schnupperte am Gesicht ihrer Freundin.
Feuerspuckende und rauchende Drachen aus Comics fielen ihr ein. Später dachte sie, dass sie vielleicht wirklich Rauch aus Meenas Mund und Nase steigen sehen hatte – so als hätte Meena sich von innen angezündet. Nein, unmöglich. Es war bloß Rattengift. Manju schwirrte der Kopf. Wenn sie um Hilfe rief, bekam der ganze Slum mit, dass Meena einen Selbstmordversuch gemacht hatte, und dann war ihr Ruf ruiniert. Ruhe bewahren schien das einzig Richtige. Sie lief zu einer Telefonzelle und rief Asha an.
»Mummy«, flüsterte sie, »Meena hat Rattengift geschluckt, ihre Mutter glaubt das nicht, und ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Ach du Scheiße!«, sagte Asha. »Du musst sie sofort zwingen, Tabak zu essen. Davon kotzt sie alles wieder raus.«
Aber was würden die Leute sagen, wenn sie sie Tabak kaufen sahen? Manju rannte zu ein paar tamilischen Frauen in Meenas Slumgasse und hoffte, dass denen etwas Besseres einfiel. »Sie hat sich vergiftet!«, zischte sie. »Helft mir! Ich weiß nicht, was ich machen soll!«
Sie schüttelten die Köpfe. »So viel Geprügel in der Familie in letzter Zeit«, sagte eine.
»Nein!«, schrie Manju, sie dachte nicht mehr daran, leise zu sein. »Jetzt steht hier nicht still rum! Ihr müsst was machen!«
Meena war herübergekommen und stellte sich zu Manju.
»Hast du wirklich was geschluckt?«, fragte eine der Tamilinnen.
»Ja«, sagte Meena sanft.
»Hast du
alles
geschluckt?«, fragte Manju. Eine Frau in dieser Slumgasse hatte neulich eine halbe Tube von demselben Gift Ratol genommen und überlebt.
»Ja, alles«, sagte Meena, beugte sich vor, würgte etwas aus, und dabei rutschten ihr ein paar Haarspiralen ins Gesicht. Als es nichts mehr auszuwürgen gab, fing sie hastig an zu reden. Dass das Ratol auf dem Marol-Markt vierzig Rupien gekostet hatte. Dass sie ihren Brüdern und ihrem Vater Kleingeld geklaut hatte. Irgendwas über ständige Prügel. Irgendwas über ihren Bruder und ein Omelette, aber nicht nur darüber. Sie hatte nicht aus einem Wutanfall heraus gehandelt, so wie Fatima. Sie hatte sich alles genau überlegt – hatte schon einmal zwei Tuben Ratol geschluckt, an zwei anderen Tagen, aber danach sofort alles erbrochen, und deshalb hatte sie die Paste diesmal mit Milch verrührt. Mit der Milch würde das Gift hoffentlich lange genug in ihrem Magen bleiben, um sie zu töten.
Es war die erste eigene Entscheidung über ihr Leben, und sie musste sie treffen, ganz allein. So etwas kann man nicht so einfach mit der besten Freundin besprechen.
Meena setzte sich wieder hin, schwerfällig, aber das hatte nichts mit ihrem Gewicht zu tun. Eine Frau tauchte mit einer Schüssel Salzwasser auf. »Davon muss sie kotzen«, sagte sie und drückte Meena vorsichtig den Kopf nach hinten.
Meena schluckte das Salzwasser. Alle warteten. Trockenes Würgen. Sonst nichts.
Wasser und Kernseife, schlug eine andere Frau vor. Sie lief nach Hause, hackte Brocken aus einem stinkigen Stück Madhumati-Seife und kam mit der Lauge zurück. Meena hielt sich die Nase zu, als ihr das zweite Gebräu die Kehle hinunterlief. Und endlich erbrach sie einen hellgrünen Schaumschwall.
»Jetzt geht’s mir besser«, sagte sie schließlich. »Es ist
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