Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
viel zu müde. Sie hatte bei Aspedals ständig zu tun, und es lag ihr nicht, mit der Arbeit zu pfuschen. Jeden Morgen stand sie um sechs Uhr auf und wischte Staub, fegte die Fußböden und deckte den Frühstückstisch. Dann ging’s in die Schule. Auf dem Nachhauseweg mußte sie Einkäufe machen. Am Nachmittag hatte sie aufzuwaschen, am Abend die Kinder zu Bett zu bringen. Ja, da blieb nicht viel Zeit, über ihr Verhältnis zu den Mitschülern nachzudenken.
Es war nicht zu leugnen, daß Frau Aspedal in Anne vor allen Dingen die Hausgehilfin sah. Anne selbst aber war vor allen Dingen Gymnasiastin. Und es war nicht immer ganz einfach, diese beiden Standpunkte miteinander in Einklang zu bringen.
Aber nach und nach vollzog sich ein Wandel in ihr. Ohne daß sie es eigentlich merkte, begann sie ganz allmählich aufzutauen. Die Sorglosigkeit der Städter, ihr selbstverständliches Lächeln, ihr leichter Gesprächston - dies alles steckte sie an. Sie fand sich plötzlich viel besser in dieser fremden Welt zurecht, und sie hatte die städtische Art, sich zu benehmen, recht gern.
Als sie etwa einen Monat in die Schule ging, wurden die Klassenkameraden eines Tages auf sie aufmerksam.
Es war in der Norwegischstunde. Norwegisch war Annes Lieblingsfach. »Nun, Anne Bücherwurm!« hatte der Pfarrer einst zu ihr gesagt, wenn sie gekommen war, sich Bücher auszuleihen. Und er hatte ihr seine lieben Klassiker gegeben. So war es gekommen, daß Anne mehr klassische Literatur gelesen hatte als irgendein anderer in der Klasse. Nur wußte das keiner von ihnen.
Sie lasen Peer Gynt und sprachen hinterher über das Gelesene. Ihr Lehrer war jung und hatte ein besonderes Geschick, die Schüler zum Sprechen zu bringen. Als sie in der Lektüre bei Äses Tod angelangt waren, sagte Studienrat Bru: »Seht mal - hier ist Peer nicht nur der gewissenlose Tollkopf, der Phantast und Lügner, wie wir ihn im ersten und zweiten Akt kennengelernt haben. Hier zeigt er sich von einer neuen Seite, hier beweist er, daß er trotz- und alledem seine Mutter liebt. Er erleichtert ihr das letzte Stündlein durch ein schönes und poetisches Märchen. «
Annes Nasenflügel zitterten bei diesen Worten. Sie saß kerzengerade. Ihre Augen glänzten. Es war ihr nicht bewußt, daß sie recht unhöflich war, als sie dem Lehrer plötzlich in die Rede fiel. Ihre Stimme klang lauter und kräftiger als sonst: »Das ist doch nicht schön und poetisch, seine Mutter geradewegs in die Hölle hineinzuschwindeln!«
Alle wandten sich zu ihr um. Ein paar Mädchen kicherten. Studienrat Bru starrte Anne an. Es war das erstemal, daß dieses zurückhaltende Mädchen aus eigenem Antrieb etwas gesagt hatte. Annes Meinung interessierte ihn. Er nahm ihr die Unterbrechung nicht übel.
»Was meinst du damit, Anne?« Anne war keineswegs verwirrt, als sie nun Rede und Antwort stehen sollte. Hier war etwas, das hatte sie gelesen und durchdacht. Und ihren Standpunkt hatte sie fix und fertig bereit.
»Ich meine, im letzten Akt, in der Szene mit den gebrochenen Halmen, den Knäueln und den welken Blättern, wo zuletzt Äses Stimme aufklingt, da erfahren wir ja, was Peer mit seiner Mutter in ihrer Todesstunde gemacht hat! Er hat ihr das ganze Leben hindurch nur Sorgen und Kummer bereitet. Und was er zuletzt getan hat, das ist wohl das Ärgste von allem. Er ist ein Dichtertalent, ein Märchendichter, ein Phantast. Und dieses Talent mißbraucht er in einem solchen Maße, daß er die Mutter mit der garstigsten aller Lügen in den Todesschlaf einlullt. Er verspricht ihr die Glückseligkeit des Himmels, und er ist so talentvoll, ihr das mit Worten auszumalen, die sie versteht. Er verspricht ihr, daß die Pröpstin selbst sie im Himmel besuchen und ihr Kaffee und Zuckerwerk bringen wird - und er schildert sogar das Gespräch zwischen dem heiligen Petrus und Gottvater. All das kann Peer Gynt, weil er nun mal ein talentvoller Märchendichter ist. Aber im letzten Akt - da hört man seiner Mutter Stimme - da macht sie ihm den allergrößten Vorwurf wegen seines verscherzten Lebens: ,Der Teufel hielt zum Narren dich’, so sagt sie da. Ja, ich finde, Peer Gynt ist ein Schwindler!« Es war ganz still in der Klasse. Anne hatte die Stimme erhoben, sie hatte sich selbst vergessen, hatte vergessen, daß aller Blicke auf sie gerichtet waren, daß alle schwiegen, während sie sprach. Sie sah nicht des Lehrers aufmerksame Augen. Sie war wieder daheim, daheim in ihrer Kammer auf Möwenfjord, wo sie im vergangenen
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