Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
ist prima«’, betonte Onkel Herluf.
»Hast du übrigens deine Studentenmütze bekommen?« fragte Eva.
Anne schüttelte den Kopf. »Aber, Eva! Ich werde doch nicht Geld für so eine teure Mütze ausgeben! Mal sehen - vielleicht zum Herbst, wenn ich in diesem Sommer viel Geld verdiene. Und wenn ich mich immatrikulieren lasse. Aber Geld in eine solche Mütze zu stecken, nur um sie beim Abitur auf dem Kopf zu haben - nein, das tue ich wahrhaftig nicht!«
»Nein, natürlich«, entgegnete Eva. »Das ist auch sicher vernünftig, Anne. Später kannst du sie dir vielleicht immer mal leisten.«
Dann war alles vorüber. Anne hatte die Prüfung mit »Sehr gut« bestanden. Etwas verwirrt und tief erschöpft ging sie durch die Straßen. Nie mehr Schule, dachte sie. Nie mehr büffeln. Nie mehr auf einer Schulbank sitzen und aufmerksam zur Tafel, zum Katheder schauen. Oder vielleicht - vielleicht doch?
Man würde sehen. Wenn sie in diesem Sommer Geld genug verdiente, könnte sie es vielleicht wagen, noch ein Jahr auf die Handelshochschule zu gehen. Sie hatte sich schon einschreiben lassen. Nun, sie konnte die Anmeldung ja immer noch zurückziehen. Wenn sie nun aber ihr gutes Abiturzeugnis vorzeigen würde, dann hätte sie Hoffnung auf einen Freiplatz. Und dann - ja dann...
Ja, sie hatte den Mut, noch ein weiteres Jahr auf sich zu nehmen. Ein Jahr wollte sie noch pauken. Und das Jahr darauf vielleicht auch - dann war Jess einundzwanzig. Dann würde er zum ersten Male als Pianist auftreten. Und dann - nein, nicht weiter denken! Nicht versuchen, den Schleier von der Zukunft zu heben.
Heute sollte Anne ihr Abiturzeugnis abholen. Sie war schon früh mit der Hausarbeit fertig geworden und zog das weiße Kleid an. Sie kämmte sich das Haar vor dem Spiegel: glänzend und hell und frischgewaschen rahmte es ihr Gesicht ein.
Alle anderen Klassenkameraden trugen heute eine Studentenmütze. Wer in Norwegen sein Abitur gemacht hat und sich dann nicht diese schwarze Mütze auf den Kopf setzt, der gilt nicht für voll. Anne biß die Zähne zusammen. Sie hatte Eva nicht die ganze Wahrheit gesagt. In Wirklichkeit war es so, daß sie ganz einfach nicht das Geld gehabt hatte, eine Mütze zu kaufen.
Nun, bis zu diesem Tage war Anne dem Mitleid aus dem Wege gegangen. Und sie wollte das bis zum letzten Augenblick tun. Nein, nicht daran denken! Nur das Abiturzeugnis war wichtig - das Zeugnis, das schwarz auf weiß aussagte, daß Anne Viken das Abiturium mit der Hauptzensur »Sehr gut« bestanden hatte. Anne richtete sich gerade hoch und lächelte.
Sie war die ganze Zeit über stark gewesen. Durch alle Schwierigkeiten hindurch. Wollte sie jetzt etwa unterliegen, im letzten Augenblick, wo es sich doch gar nicht einmal um eine Schwierigkeit handelte, sondern nur um eine kleine Äußerlichkeit?
Da klingelte es an der Flurtür. Ein Bote erschien. »Ich habe ein Paket für Fräulein Viken abzugeben.«
Anne wußte, was es war, bevor sie es noch geöffnet hatte. Und sie wußte auch, von wem es kam. Ihre Wangen glühten, als sie hastig die Verschnürung aufriß.
»Liebe kleine Anne«, stand auf der beigefügten Karte. »Nichts wäre natürlicher gewesen, als daß wir Dir heute Blumen geschickt hätten. Sind wir sehr im Irrtum, wenn wir annehmen, daß Du lieber diese Mütze hier haben willst? Herzlichen Glückwunsch, tüchtige kleine Anne! Tante Eva und Onkel Herluf.«
Mit bebenden Händen setzte sich Anne die Mütze auf den Kopf. Sie stupste die Troddel ein wenig hin und her, bis sie endlich auf der rechten Schulter lag. Dann besah sie sich im Spiegel.
Die Mütze kleidete sie. Ihre Hand strich sacht über die schwere Seide der Troddel. Sie hörte des Vaters Stimme aus weiter, weiter Ferne - des Vaters tiefe, warme Stimme: »Kleine Anne Bücherwurm. «
Dann ging Anne hinaus. Schon in der Haustür sah sie Jess an der Ecke warten. Sie winkte ihm fröhlich zu; mit großen Schritten kam er ihr entgegen.
Gemeinsam gingen sie dann weiter.
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