Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
Biologie, Musterstricken, norwegische Aufsätze, Servieren in Gesellschaften. »Wenn wir uns Shakespeares Frauengestalten ansehen. wir möchten gern die Fausthandschuhe rechtzeitig vor Ostern haben, Fräulein Viken. daß wir einen Sherrypudding als Zwischengang nehmen, nein, nicht Nachtisch, sondern Zwischengericht. hinterher kommt dann das Geflügel, dazu nehmen wir die silberne Soßenschale, ist es Ihnen jetzt klar. aber Fräulein Viken, morgen können Sie die Fußböden lassen, wenn Sie dann nur so freundlich wären und die Bügelwäsche fertigmachen würden, ich sprenge sie heute abend ein. eine Hafergrütze und ein Glas Milch, ganz recht.« So sah es in diesem Frühling in Annes Hirn aus.
Arbeit. Arbeit. Klirrende Stricknadeln, klirrender Aufwasch. Tausend kleine schwarze Buchstaben, die spätabends vor müden Augen wimmelten. Ein schmerzender Kopf. Auf Zehenspitzen in die Küche hinaus und sich eine nächtliche Tasse Kaffee aufbrühen.
»Wie geht es, Anne? Ißt du ordentlich?«
»Aber gewiß, Eva, wie ein Pferd.«
»Hör mal, nimm dir ein Glas mit Eingemachtem mit!
Ein bißchen Abwechslung ist ganz gut fürs Butterbrot.«
Die »Abwechslung« war ein rechter Segen. Denn Anne hatte sonst nichts zum Abwechseln, das Eingemachte war ihr einziges Zubrot außer der Margarine.
Von daheim traf ein Paket ein. Ein Paket mit Schafrollwurst und Multbeerengrütze. Anne sparte eine Woche das Mittagessen.
Aber dann: Mehr Schulaufgaben, mehr Stricken, mehr Servieren.
Sie brauchte eine Studentenmütze, wie sie für die norwegischen Abiturienten üblich war. Außerdem einen billigen Kleiderstoff. Und ein Paar neue Strümpfe. Ihre Jacke mußte gefärbt werden. Wie das an Annes Kapital zehrte! Das Kapital, von dem sie während der ganzen Examenszeit leben sollte.
Wie die Wochen der Prüfung ohne Jess geworden wären, ja, das mochte der Himmel wissen! So lange das schriftliche Examen dauerte, lehnte Anne alle Unternehmungen ab. Nein, sie wollte sich durch ein paar gesellige Abende auch nicht das mindeste von ihrem teuer erkauften Examen zerstören lassen!
Sie ging ruhig an ihre Aufgaben heran, sie arbeitete konzentriert und sicher. Es war für sie von so großer Bedeutung - keiner sollte kommen und sagen, die Anne Viken sei größenwahnsinnig gewesen, was hatte sie in der Stadt zu suchen, auf dem Gymnasium; sie hätte ja zu Hause auf Möwenfjord bleiben können!
Schließlich nahm sie doch an ein paar Schulveranstaltungen teil, weil die Kameraden alle sehr drängten. Spaß machte es natürlich -aber Anne war müde. Jetzt, wo die schlimmste Spannung überstanden war, übermannte sie bleierne Mattigkeit.
Sollte sie das Mündliche so gut bewältigen, wie sie den Ehrgeiz hatte, dann mußte sie jetzt alle Segel reffen! Anne zählte die Reste ihres Kapitals, sie stellte fest, daß sie bei vorsichtigem Wirtschaften bis zur Reisesaison durchkommen würde - und dann ging sie zu Bett und schlief. Sie schlief vom frühen Nachmittag bis zum nächsten Morgen um halb sechs Uhr, stand auf, erledigte ihre Arbeiten, aß -und ging wieder zu Bett. Drei Tage trieb sie es so. Aber dann war sie auch ein neuer Mensch.
Bald würde alles überstanden sein. Bald sollte sie reisen. Fort in eine neue Arbeit - diesmal zusammen mit Jess. Und auf dem Wege dorthin wollte sie eben einmal auf Möwenfjord hereinschauen. Jess sollte die Mutter kennenlernen, sollte das abgesperrte enge Tal sehen, in dem Anne aufgewachsen war.
Jess aus dem fröhlichen, freundlichen, hellen Dänemark sollte dem Schwarzbuckel von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sollte seinen düsteren Ernst und seinen narbigen Berghang sehen, der von den Opfern berichtete, die die harte Natur dort forderte.
»Ja, Annchen«, sagte Eva, »nun sind es nicht mehr allzu viele Tage bis zur Prüfung. Und wie fühlst du dich, Jess?« wandte sie sich an den Sohn. »Hast du nicht ein bißchen Angst?«
»Unsinn«, sagte Jess. »Vergiß nicht, ich mache das Abitur in einer fremden Sprache! Und trotzdem bin ich bis jetzt ganz gut dabei weggekommen. Ich kriege immerhin ein »Gut« als Hauptzensur, wenn auch nur eben-eben.«
»Ja ja, du bist ein lebendiges Beispiel für das Sprichwort: Mehr Glück als Verstand!« knurrte Onkel Herluf.
»Und wofür ist Anne ein lebendiges Beispiel?« fragte Jess.
Onkel Herlufs Augen ruhten auf dem hellen Kopf des Mädchens. »Das zu sagen, erübrigt sich«, meinte er nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Anne ist.«
»Anne ist Primus«, sagte Jess.
»Anne
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