Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
bat sie ihn vergebens. Sie war noch ein kleines Kind, als der Vater ihr schon zeigte, wie sie die Geige und den Bogen halten sollte; und bald fanden sich Annes kleine kräftige Finger auf den Saiten gut zurecht.
Die Noten brachte ihr erst viel später die Erzieherin der Pfarrerskinder bei.
Anne war die Jüngste auf Möwenfjord. Sie kam zur Schule, als sie sieben war. Alle zwei Tage ruderte ihr Bruder Magnus sie zum Dorf hinüber. Später schaffte er sich einen Außenbordmotor an - es war in jenem Winter, als die Heringsfischerei besonders viel einbrachte -, und da ging es leichter. Wenn nur nicht das Wetter gewesen wäre! Manchmal wurde Anne durch Schnee und Frost, Sturm und Regen gezwungen, mehrere Tage und Nächte hintereinander auf dem Pfarrhof zu bleiben.
Sie war bei Pastors gern gesehen. Stumm und still und vergnügt stand sie in der Pfarrküche und trocknete Geschirr ab, oder sie half im Stall beim Melken oder saß mit ihrem Strickzeug bescheiden in einer Ecke, während die Frau Pfarrer Klavier spielte. »Es ist sonderbar mit den Leuten vom Möwenfjord«, sagte die Pastorin, »sie haben immer für alles Zeit. Und trotzdem sehen sie nie aus, als ob sie sich abhetzten.«
Sie hatte wahrlich recht. Es mochte daher kommen, daß die vom Möwenfjord so ganz für sich lebten. Sie hatten nur sich selbst und das Ihre, aber nichts sonst. Sie kannten keine Geselligkeit, keine Gäste, kein Kino - nichts von dem allen, was die Stadtmenschen in Anspruch nahm.
Ein Radio allerdings besaßen sie. Und sie nutzten es weidlich aus. Sie hörten eifrig Vorträge und Musik, Nachrichten und Hörspiele, überhaupt alles, was sich des Hörens verlohnte. Und während sie hörten, klapperten die Stricknadeln rasch und altgewohnt in den geübten Frauenhänden. Wunderschöne schwarzweiß-gemusterte Jacken und Fausthandschuhe entstanden auf Möwenfjord, die Muster kehrten von Geschlecht zu Geschlecht in der Familie immer wieder.
Sie hatten Zeit zu lesen, Zeit Musik zu machen, sie hatten zu allem Zeit. Die Tage hatten ihren gleichmäßigen Rhythmus, alles wurde in derselben stillen, stetigen Art getan.
Mit vierzehn Jahren war Anne mit der Volksschule fertig und wurde eingesegnet. Sie hatte gut gelernt. Sie war ein richtiger Bücherwurm, und der Lehrer meinte, sie solle weiter zur Schule gehen. Deshalb sprachen die Pfarrersleute mit der Mutter und mit Magnus. Denn gerade zu diesem Zeitpunkt hatten sie für ihre Kinder eine Erzieherin ins Haus genommen. Wenn Anne an diesem Unterricht teilnahm, so sollte es sie nichts kosten. Und für die Pfarrerskinder würde es nur gut sein, eine so fleißige Mitschülerin zu haben.
Kristina Viken, Annes Mutter, war sehr verlegen und meinte, daß das doch nicht anginge. Und Magnus, Annes ältester Bruder, ließ verlauten, daß er doch wohl Manns genug sei, für das Schulgeld der Schwester aufzukommen, wenn der Pfarrer und der Lehrer es für richtig hielten, daß sie weiterlernen solle. Magnus war das Oberhaupt und der Versorger der Familie, seit der Vater vor sechs Jahren starb. Aber der Pfarrer blieb bei seinem Vorschlag. Und die Frau Pfarrer fügte hinzu, falls Anne hier und da im Hause mit Hand anlegen wolle, sei das eine völlig ausreichende Bezahlung für den Unterricht. Und so geschah es.
Seitdem blieb Anne, wenn es sich gerade fügte, noch öfter als zuvor mehrere Tage hintereinander bei Pfarrers. Denn jetzt fand der Unterricht täglich statt, und die ehrgeizige junge Erzieherin wußte, wie sie ihre Schülerinnen voranbringen mußte. Anne sog alles Wissen mit offenen Sinnen ein. Der Unterricht wurde in der »Reichssprache« abgehalten, die ungefähr dem Hochdeutsch entspricht. Sie wird von den Städtern und von allen denjenigen in Norwegen gesprochen, die nicht Bauern oder Fischer sind. Die Landbevölkerung Norwegens aber spricht und schreibt den altnorwegischen Dialekt, der in manchem erheblich von der »Reichssprache« abweicht. Anne kannte bisher nur den Dialekt ihres Tals. Doch sie lernte schnell, und bald beherrschte sie die »Reichssprache« ebensogut wie ihre heimatliche Mundart.
Ihr machte alles Spaß. Sie rechnete schnell und gut, die Geometrie war für sie ein reines Vergnügen, ja, eigentlich empfand sie es wie ein aufregendes Spiel, zu sehen, wieviel man mit einem Zirkel und einem Lineal zuwege brachte. Ebenso spannend war die Grammatik. Wenn man sie begriffen hatte und wenn sie richtig lebendig wurde, dann konnte man im Nu den Zusammenhang zwischen Norwegisch, Englisch und Deutsch
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