Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
Und die Frau Pastor kam und schenkte ihr einen Koffer, einen richtigen praktischen Koffer aus Vulkanfiber. Er war gerade groß genug für die Sachen, die sie mitnehmen wollte - eine gute Ergänzung zu der Kiste, die die Mutter zu Hause für sie gepackt hatte.
Und da kam doch tatsächlich auch der Krämer und brachte ein Paket für sie. Er sagte, er habe gerade noch einen Kleiderstoffrest und würde sich herzlich freuen, wenn Anne die Güte haben und ihn annehmen wollte. Für ein Schulkleid sei er gerade richtig, für ein hübsches Kleid, mit dem sie sich unter den feinen Stadtmädchen sehen lassen könnte.
Marthild nähte das Kleid für sie; es wurde ein schottisches Kleid mit roten Knöpfen und rotem Gürtel. Als Anne es anzog, kam sie sich so fein vor wie noch nie. In der Stadt, nein, in der ganzen Welt, so glaubte sie, gab es bestimmt keine Situation, die sie in diesem Schottenkleid nicht würde meistern können.
Tatsächlich, bis jetzt hatte Anne noch nie Gelegenheit gehabt, eine andere Gegend kennenzulernen. Ihr ganzes Leben hatte sie auf Möwenfjord und in dem kleinen Dorf verbracht. Nun aber zog sie mit großen, offenen und wißbegierigen Augen in die Welt hinaus. In eine Welt, von der sie nicht das geringste wußte.
Schon der Dampfer war eine aufregende Sache. Nach dem Abschied von der Mutter, den Geschwistern und den Dorfleuten ging sie mit klopfendem Herzen an Deck hin und her, und ihre Augen wanderten von einem Ding zum anderen. Sie redete mit niemandem, sie fühlte sich nicht allein, sie verspürte keine Angst. Sie war nur von einer stillen Neugier beherrscht. Sie sah alles, merkte sich alles und war über alles glücklich verwundert.
Es war ein schöner Sommerabend. Als man zum Essen rief, wäre sie gern noch ein wenig draußen an Deck geblieben. Aber dann lockte sie doch der Salon. Ja, das war wieder etwas Neues! Sie setzte sich dort an den Abendbrottisch und wunderte sich darüber, daß man so viel und ein so feines Essen an Bord zubereiten konnte - und noch dazu an einem Alltag! Das gab es nicht einmal bei Pastors, wenn Besuch da war! Eigentlich hatte Anne Mundvorrat für die Reise mitnehmen wollen, aber Magnus hatte ihr erklärt, daß man, wenn man eine Schiffskarte kaufte, auch zugleich das Essen mitbezahlte. »Du kannst auf dem Dampfer so viel essen, wie du schaffst«, hatte er gesagt. Und er mußte es wissen.
Ja, Anne schaffte viel. Das Essen daheim war schlicht und einfach, aber das Essen hier an Bord war geradezu ein Märchen für sie. Sie aß kaltes Fleisch in Gelee und Dosenhummer, sie kostete vom kalten Braten, der mit Tomaten und Gurken geziert war, sie schluckte etwas Merkwürdiges hinunter, das sie nicht kannte, aber es war immerhin mit Mayonnaise angemacht - und die hatte sie im Pfarrhaus kennengelernt.
Dann legte sie sich in der Kajüte, die sie mit drei anderen Passagieren teilte, zur Ruhe nieder. Sie hatte eine obere Koje. Lange lag sie da und betrachtete die elektrischen Nachtlampen, die Klingeln, den hübschen polierten Waschtisch. Alles schimmerte von Nickel und Lack.
Mit ihren Mitreisenden wechselte sie nicht viel Worte. An Unterhaltung war sie nicht gewöhnt, und es verlangte sie auch nicht danach. Es tat so gut, allein zu sein und in Ruhe zu schauen und zu denken und sich zu freuen.
Sie stand an der Reling, hatte lange dort gestanden. Schon oft hatte sie geglaubt, jetzt tauche die Stadt auf. Jedesmal hatte sie sich geirrt. Es waren Dörfer und Fabrikplätze, die ihr entgegenleuchteten. Aber jetzt - nach dem Fahrplan sollten sie in einer halben Stunde ankommen! Das Schiff hatte östlichen Kurs genommen, es fuhr in einen großen Fjord ein. Zu beiden Seiten wurden die Lichter häufiger, es tauchten kleine Häuser auf, sie machten größeren Platz, und an beiden Ufern des Fjords lief eine Straße dahin - eine breite Straße, über die die Scheinwerfer der fahrenden Autos dahinjagten.
Dann tauchte die Stadt selber im Winkel des Fjords auf. Anne kniff die Augen zusammen, und ihr Herz klopfte.
So viel Licht auf einmal! Und ein so seltsames Licht! Tausende von Lampen flossen zu einem Lichtnebel zusammen; ja wirklich, es sah wie Nebel aus, es war, wie wenn ein Schleier über ihnen läge -oder war es das Licht selber, das so nebelhaft wirkte?
Sie sog die Luft ein. Die feinen Nasenflügel bewegten sich wie bei einem witternden Tier. Ein neuer Geruch schlug ihr entgegen. Ein merkwürdiger Geruch, den sie mit nichts vergleichen konnte. Und ein fernes Geräusch drang an ihr Ohr.
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