Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
saßen.
»Dieser glückliche Mensch bin ich selber«, fiel Gerda Aspedal ein. »Du weißt, was es für mich bedeutet, einen zuverlässigen Menschen im Haus zu haben. Und zuverlässig wirkt sie, deine kleine Schutzbefohlene.«
»Ja, für Anne lege ich meine Hand ins Feuer«, nickte die Pfarrersfrau. »Sie ist durch und durch goldecht. Aber - du wirst sicher viele Überraschungen mit ihr erleben! Darauf möchte ich dich jetzt schon vorbereiten. Die Anne hat nämlich überhaupt noch niemals einen Schritt in eine Stadt getan; sie ist es kaum gewohnt, mit Menschen zu verkehren.«
»Das habe ich gemerkt«, sagte Gerda Aspedal. »Aber du kannst überzeugt sein, Julie - bei mir lernt sie das schnell.«
»Sie ist nicht eigentlich schüchtern«, fuhr die Pastorin nachdenklich fort. »Nur still in ihrem Wesen. Sehr wortkarg wie alle Leute vom Möwenfjord. Aber - » sie mußte lächeln, »wenn sie einmal etwas sagt, dann kommt es auch geradezu und ohne Umschweife heraus, wie ein Hammerschlag. Darauf mußt du dich vorbereiten.«
»Ich bin auf alles vorbereitet«, meinte Frau Aspedal ruhig. »Besser als irgendein Stadtmädchen ist Anne auf jeden Fall. Weißt du, was so eine Hausgehilfin in der Stadt verlangt? 250 Kronen im Monat, dazu Zimmer mit Radio, Krankenkasse und Steuern, und täglich ab 18 Uhr frei! Das ist doch unmöglich! Nein - diese Regelung mit Anne ist einfach ideal für mich. Und wie du sagst, kann das Mädel arbeiten...«
»Ja, das kann sie.«
»... und sie ist darauf versessen, in die Stadt und zur Schule zu kommen.«
»Das ist sie auch. Aber - entschuldige, wenn ich das sage, Gerda
- du mußt daran denken, daß sie erst siebzehn ist! Es wird anstrengend für sie sein, im Gymnasium mitzukommen - du darfst nicht zu viel von ihr verlangen.«
»Wofür hältst du mich?« rief Gerda. »Selbstverständlich wird Anne bei mir reichlich Zeit für ihre Schulaufgaben haben. Nur.« Ihre Stimme wurde ernst. »Allzuviel Freizeit wird es für sie nicht geben. Darauf muß sie vorbereitet sein.«
Darauf war Anne vorbereitet. Arbeiten? Sie hatte ihr ganzes Leben lang gearbeitet. Und das bißchen Arbeit, von dem Frau Aspedal gesprochen hatte, war im Vergleich zu ihren Pflichten auf Möwenfjord rein gar nichts. Und Freizeit? Sie wußte nicht, was das war. Die Leute vom Möwenfjord kannten keine Freizeit!
Am Abend nach diesem aufregenden Tag kuschelte sich Anne zufrieden ins Bett, legte den Kopf auf das Kissen und schloß die Augen. Jetzt konnte sie sich wieder so nennen, wie der Vater sie an ihrem ersten Schultag im Scherz genannt hatte: »Annele Schulmädele«. Ja, jetzt war sie wieder »Anne Schulmädel«. Und mehr als das: »Anne Gymnasiastin« - das war sie, bald schon, sehr bald! Und in zwei Jahren - in zwei Jahren würde sie »Anne Abiturientin« sein.
Im Fremdenzimmer des Pfarrhauses aber, drinnen im Dorf, lag Gerda Aspedal in ihrem Bett. Sie war froh und erleichtert und rundherum glücklich. Mit einem zufriedenen Lächeln dachte sie an »Anne Hausgehilfin«.
Wunderbare neue Welt
Jetzt merkte man so richtig, wie beliebt Anne überall war. Sie, die Jüngste vom Möwenfjord, war viel öfter ins Dorf hineingekommen als ihre Geschwister, als Magnus, Tore, Marthild und Björg, und man kannte sie dort am besten. Anne hatte ja auch als einzige bei Pfarrers Realschulunterricht genossen, und die Dorfleute sprachen viel von diesem stillen Mädel mit dem hellen Kopf. Die anderen Kinder der Kristina Viken hingegen sah man nur selten. Magnus blieb im Sommer immer zu Hause und ging jeden Winter auf Heringsgroßfang. Marthild war mit einem Seemann verlobt, Björg hatte nach auswärts geheiratet, und Tore schaffte mit seiner jungen Frau Liv so viel auf dem Hof, daß er kaum je heraus kam. So war Anne das Bindeglied zwischen Möwenfjord und dem Dorf geworden.
Nun aber ging es wie ein Lauffeuer durch den ganzen Ort, daß Anne bald in die Stadt ziehen würde. Zwei Jahre lang sollte sie fortbleiben und dann mit schwarzer Studentenmütze auf dem Kopf zurückkehren! Ausgerechnet die Anne - ja, es war ihr gewiß zu gönnen.
Alle Leute im Dorf waren jetzt noch freundlicher als bisher zu Anne. Jeder sprach sie an, jeder sagte ihr etwas Gutes. Die Frau des Amtmanns kam mit einem Paar feiner blauer Pantoffeln zu ihr. Es waren die ersten Pantoffeln in Annes Leben. Bisher hatte sie sich im Freien mit Schuhen oder Holzschuhen beholfen und zu Hause mit dicken Socken. »Aber in der Stadt mußt du Pantoffeln haben«, sagte die Frau Amtmann.
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