Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
Müttern, die ihren Sohn nach allem fragen, weißt du. - Nun ja, eines Tages wird er wohl mit der Sprache herausrücken. Noch eine Tasse, Anne?«
Sie sprachen von anderen Dingen. Erst als Eva zufällig den Namen Lotti Hagen erwähnte, konnte Anne es sich nicht verkneifen zu sagen, es sei so lange her, daß sie sie getroffen hätte.
»Ja, sie ist zur Zeit unsichtbar«, sagte Eva. »Sie hat offenbar einen anderen Ort zum Baden gefunden«, fügte sie lachend hinzu.
Es riß und brannte in Annes Innerem.
Von all den Erfahrungen, die Anne in letzter Zeit gemacht hatte, war diese am schmerzlichsten.
Die anderen Mädchen in der Klasse hatten zwar bald den einen, bald den anderen Freund, mit dem sie zusammen »gingen«. Aber Anne und Jess - das war die ganze Zeit über etwas Festes gewesen, etwas, womit man rechnete. Zu Anfang hatten die anderen ein wenig säuerlich und verwundert zugesehen, wie Jess ihnen die schweigsame Anne vom Lande vorgezogen hatte - aber allmählich hatten sie Anne anerkannt und sich damit abgefunden, daß Jess und Anne nun einmal zusammengehörten.
Anne aber war so ruhig und sicher gewesen. Sie hatte alle Schwierigkeiten überwinden können, weil ihre Liebe zu Jess eine Kraftquelle für sie bedeutete.
Sie schloß die Augen und rief sich die Worte wieder ins Gedächtnis, die Jess an jenem unvergeßlichen Ostertag gesprochen hatte: »Ich habe dich so furchtbar gern, Anne!«
Aber er hatte auch vieles andere gesagt. Dinge, die jetzt ebenfalls in Annes Bewußtsein auftauchten, unbarmherzig klar und deutlich: »Wir kommen aus zwei verschiedenen Welten.« Und Jess und Lotti stammten aus ein und derselben Welt. »Wir gehören zum fahrenden Volk, Anne.« Das tat Lotti auch. »Ich bin viel zu jung, um schon bestimmte Pläne für meine Zukunft machen zu können.« Aber wie die Zukunft sich auch gestalten mochte - Jess und Lotti lebten doch immer im selben Milieu und hatten gemeinsame Interessen. »Mit uns ist alles unsicher.« Ja, alles war unsicher. Fürchterlich unsicher.
Anne warf sich in dem schmalen Bett hin und her. Es war ihr unmöglich, einzuschlafen. So warf sie denn die Bettdecke beiseite, öffnete die unterste Kommodenschublade, holte das Kästchen hervor und kramte Mutters Brief heraus.
»Du sollst nie von jemand abhängig sein, auch von Daells nicht. Ich weiß nicht, ob Du Dich als künftige Schwiegertochter in ihrem Hause fühlst. Nimm es nicht auf Vorschuß.«
Annes Nasenflügel bebten, die Augen wurden blank, und sie mußte sie trockenreiben, um weiterlesen zu können. »Ihr wißt nicht, was noch daraus werden kann. Darum darfst Du nicht bei seinen Eltern in Schuld und Abhängigkeit kommen.«
Anne faltete den Brief mit zitternden Fingern zusammen. Einen Augenblick lang fühlte sie sich so furchtbar allein, so furchtbar klein und so furchtbar verlassen. Warum sollte sie sich anstrengen und schwer arbeiten, warum sollte sie sich die Fingerspitzen wundstricken und die Töpfe anderer Leute scheuern und hungern und ruppig angezogen gehen, nur um das Abitur zu machen? Was sollte sie hinterher tun? Nach Möwenfjord zurückfahren und Heukarren schieben und Kühe melken? Dazu brauchte sie nicht das Abitur. Warum tat sie nur das alles?
Da hörte sie Vaters Stimme in ihrem Innern. Vaters gute Stimme, die sie »Kleine Anne Bücherwurm« nannte. Vaters Stimme, die sagte, daß man soviel wie möglich in der Welt lernen solle. Sie hörte den Schullehrer, der ihnen den Ratschlag gegeben hatte, sie weiter in die Schule zu schicken. Und Mutter. Mutter hätte jetzt vor ihr gestanden, schwer und breit, hätte die starke Hand auf ihre Schulter gelegt und ruhig gesagt: »Halt aus, Anne! Gib nicht nach!«
Nicht nachgeben - nicht nachgeben - Anne schloß die Augen, und ihr war, als höre sie die Wogen des Fjordes gegen die Felsen schlagen, als hörte sie das Dröhnen des Wasserfalls auf dem Schwarzbuckel.
Der Schwarzbuckel. Hoch und aufrecht und unverrückbar mit der Narbe vom Steinschlag damals. Unbeugsam und hart. Nein, dachte Anne. Ich gebe nicht nach. Ich werde durchkommen. Trotz- und alledem.
Die große Wende
»Fräulein Viken!« rief Frau Hagensen. Sie kam in die Küche, als Anne beim Aufwaschen war. »Können Sie eine kleine Extraarbeit übernehmen?«
»Ja - um was handelt es sich?«
»Wir haben Sonnabend Gäste. Ich weiß, Sie pflegen sonnabends immer fortzugehen. Aber es wäre sehr nett, wenn Sie diesmal...«
Anne überlegte einen Augenblick. »Gut, ich werde die Arbeit übernehmen, Frau
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