Anne auf Green Gables
Es war furchtbar.«
»Anne Shirley!«, wies Marilla sie zurecht.
»Ich war ganz brav, wie du es mir gesagt hast. Mrs Lynde war nicht zu Hause, also bin ich alleine zur Kirche gegangen und habe mich in einen Stuhl am Fenster gesetzt. Es waren noch viele andere Mädchen da. Mr Bell hat die Andacht gehalten und ein entsetzlich langes Gebet gesprochen. Ich dachte schon, er würde überhaupt nicht aufhören. Wenn ich nicht am Fenster gesessen hätte, wäre ich wahrscheinlich eingeschlafen. Doch von meinem Platz aus konnte ich den >See der glitzernden Wasser< sehen. Ich habe zu ihm hinübergeschaut und mir alle möglichen herrlichen Dinge vorgestellt.«
»Stattdessen hättest du Mr Bell zuhören sollen.«
»Aber er hat ja gar nicht zu mir geredet«, widersprach Anne. »Er hat mit Gott gesprochen. Außerdem schien er selbst auch nicht gerade besonders interessiert zu sein. Wahrscheinlich dachte er, Gott sei sowieso viel zu weit weg, um ihn zu hören. Ich habe trotzdem selbst ein kleines Gebet gesprochen. Am Seeufer stand eine ganze lange Reihe weißer Birken und die Sonne schien genau auf ihre weit übers Wasser gebeugten Zweige. Das sah aus wie in einem schönen Traum, Marilla, und ich habe Gott inständig für dieses schöne Bild gedankt.«
»Hoffentlich nicht laut?«, fragte Marilla besorgt.
»Nein, nein, es war ein stilles Gebet. Tja, und dann kam Mr Bell doch noch zum Ende und man sagte mir, ich solle in die Klasse von Miss Rogerson gehen. Alle anderen neun Mädchen in der Klasse hatten Kleider mit Puffärmeln. Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich auch welche hätte, aber es hat nicht richtig geklappt. Warum bloß? Als ich noch alleine im Ostgiebel war, ging es ganz leicht, aber da - unter all den anderen Mädchen mit richtigen Puffärmeln — wollte es mir irgendwie nicht gelingen.«
»Anstatt an deine Ärmel zu denken, hättest du lieber am Unterricht teilnehmen sollen. Ich hoffe, das ist dir klar.«
»Oh, ja. Ich habe ja auch eine Menge Fragen beantwortet. Miss Rogerson hat mich oft aufgerufen. Ich fand das nicht besonders gerecht von ihr, schließlich hätte ich ebenso viele Fragen gewusst, die ich ihr gern gestellt hätte. Aber wahrscheinlich hätte das doch keinen Sinn gehabt. Ich glaube nicht, dass sie eine verwandte Seele ist. - Nach der Sonntagsschule ging es noch einmal in die Kirche. Miss Rogerson hat mir euren Kirchenstuhl gezeigt, denn Mrs Lynde war so weit weg, dass ich sie nicht fragen konnte. Zuerst wurde aus der Bibel vorgelesen - ein ziemlich langer Text. Wenn ich Pfarrer wäre, würde ich ja eher die kurzen, zackigen Bibelstellen auswählen. Und die Predigt zog sich ebenfalls schrecklich lange hin. Aber wahrscheinlich musste der Pfarrer sich dem Text anpassen. Er scheint aber auch keinen Funken Phantasie zu besitzen. Alles, was er sagte, war so uninteressant, dass ich kaum zuhören konnte. Ich habe meine Gedanken schweifen lassen und an alles Mögliche gedacht.«
Ratlos sah Marilla die Kleine an. Eigentlich sollte sie Anne zurechtweisen und sie für ihre Worte tadeln. Doch vieles von dem, was Anne gesagt hatte - besonders über die langatmigen Predigten des Pfarrers und Mr Beils endlose Gebete - waren Dinge, die sie selbst seit Jahren insgeheim auch schon gedacht hatte, ohne es jedoch zu wagen, solche Überlegungen jemals auszusprechen. Es schien ihr fast, als hätten ihre verborgenen Gedanken in den Worten dieses offenherzigen kleinen Geschöpfs plötzlich Gestalt angenommen.
Am darauf folgenden Freitag sollte Annes Besuch in der Sonntagsschule aber doch noch unangenehme Folgen haben. Marilla, die von einem Besuch bei Mrs Lynde zurückkam, rief Anne verärgert zu sich. »Anne, Rachel Lynde sagt, du seist am Sonntag in einem geradezu lächerlichen Aufzug in der Kirche erschienen, dein Hut sei voller Rosen und Butterblumen gewesen. Wie um alles in der Welt bist du denn auf diese Dummheit verfallen? Du musst ja einen schönen Anblick geboten haben!«
»Ich weiß, Rosa und Gelb stehen mir nicht«, gab Anne kleinlaut zu. »Ob dir die Farben stehen, ist doch völlig egal. Seinen Hut mit Butterblumen und Rosen herauszuputzen ... so etwas Lächerliches! Du bist das ungezogenste kleine Mädchen, das ich kenne.«
»Ich verstehe nicht, warum es lächerlich sein soll, Blumen am Hut zu tragen, wo doch viele der anderen Mädchen kleine Sträuße an ihren Kleidern hatten«, verteidigte sich Anne. »Wo ist da der Unterschied?« Doch Marilla blieb fest entschlossen, auf dem Boden der Tatsachen zu
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