Anne auf Green Gables
Mädchen schon draußen waren, »aber was soll ich tun? Ihr Vater ermutigt sie auch noch dazu. Ständig hockt sie über irgendwelchen Büchern. Ich wäre froh, wenn sie eine Spielkameradin hätte, das würde sie mehr aus dem Haus locken.«
Draußen im Garten standen sich Anne und Diana im milden Sonnenlicht gegenüber und schauten sich über eine Staude üppiger Tigerlilien hinweg schüchtern an.
Zu jeder anderen, weniger schicksalsschweren Stunde hätte der Garten der Barrys Annes Herz höher schlagen lassen. Er wirkte wie eine riesige, verwilderte, von hohen Weiden umstandene Laube. Heere von Bienen summten über den prächtigen Flammenden Herzen, den purpurroten Pfingstrosen, den weißen und gelben Narzissen und den dornigen, süß duftenden Rosen. Außerdem gab es noch Akelei und Seifenkraut, Stabwurz und Bandgras, dunkelrote wilde Orchideen und edle weiße Moschusblumen.
»Oh, Diana«, brach Anne schließlich flüsternd das Schweigen, »meinst du ... meinst du, du könntest mich ein bisschen mögen .. . wenigstens so viel, um meine Busenfreundin zu sein?«
Diana lachte. Sie lachte fast immer, bevor sie sprach. »Ja, ich glaube schon«, sagte sie offenherzig. »Ich bin riesig froh, dass du jetzt auf Green Gables wohnst. Es wird schön sein, jemanden zum Spielen zu haben. Die anderen Mädchen wohnen alle ziemlich weit weg und meine Schwestern sind noch nicht groß genug.«
»Willst du darauf einen heiligen Eid ablegen?«, war Annes nächste eifrige Frage.
Diana sah sie erstaunt an. »So etwas tut man doch nur vor Gericht.«
»Nein, das meine ich nicht. Es gibt nämlich zwei Sorten von Eiden, musst du wissen, und meiner heißt >heiliger Eid unter Freunden<.«
»Gut, ich habe nichts dagegen«, stimmte Diana zu. »Aber wie geht das?«
»Zuerst müssen wir uns bei der Hand nehmen . . . so«, sagte Anne ernst. »Eigentlich müssten wir es über einem fließenden Gewässer machen. Am besten stellen wir uns einfach vor, dieser Pfad hier wäre ein Bach. Ich schwöre den feierlichen Eid zuerst. Also: >Ich gelobe und verspreche feierlich, meiner Busenfreundin Diana Barry die Treue zu halten, solange sich die Erde dreht und Sonne und Mond am Himmel stehen. Diana wiederholte den >heiligen Eid< und fügte hinzu: »Du bist ein merkwürdiges Mädchen, Anne. Ich habe schon vorher gehört, dass du ein bisschen seltsam bist. Aber ich glaube, ich werde dich sehr gern mögen.«
Auf dem Heimweg wurden Marilla und Anne bis zur alten Holzbrücke von Diana begleitet. Die beiden Mädchen gingen Arm in Arm und beim Abschied verabredeten sie sich gleich für den nächsten Nachmittag.
»Nun, hast du in Diana eine >verwandte Seele< gefunden?«, fragte Marilla, als sie durch den Garten auf Green Gables zugingen.
»Oh, ja«, seufzte Anne, die die Ironie in Marillas Stimme nicht wahrgenommen hatte. »Marilla, ich bin im Moment das glücklichste Mädchen von ganz Prince Edward Island! Heute Abend werde ich mein Gebet aus vollstem Herzen sprechen, da kannst du ganz sicher sein. Diana und ich wollen morgen in Mr William Beils Birkenwäldchen ein kleines Spielhaus bauen. Ach, bitte, Marilla, kann ich die kaputten Porzellansachen aus dem Holzschuppen dafür haben? - Diana hat im Februar Geburtstag und ich im März - ist das nicht ein seltsamer Zufall? - Diana will mir ein Buch ausleihen. Sie sagt, es ist fürchterlich spannend. - Findest du nicht auch, dass Diana seelenvolle Augen hat? - Sie will mir auch ein paar Lieder beibringen, die ich noch nicht kenne, und mir ein Bild schenken, das ich in meinem Zimmer aufhängen kann. Es soll ein sehr schönes Bild sein, von einer Dame in einem blassblauen Seidenkleid. Sie hat es mal von einem Nähmaschinenvertreter bekommen. Ich wünschte, ich hätte auch etwas, was ich Diana schenken könnte! - An einem der nächsten Tage wollen wir zusammen zum Strand gehen und Muscheln sammeln und die Quelle unten an der Holzbrücke wollen wir den >Nymphenteich< nennen, ist das nicht ein wunderschöner Name? Ich habe mal eine Geschichte gelesen, in der ein Nymphenteich vorkam. Eine Nymphe ist so etwas wie eine erwachsene Seejungfrau, glaube ich.«
»Ich hoffe nur, dass du Diana kein Loch in den Bauch redest«, warf Marilla ein. »Und noch etwa solltest du bei all deinen Plänen bedenken, Anne: Du wirst nicht den ganzen Tag spielen können. Im Gegenteil, es gibt viele Arbeiten und Pflichten, die du zuerst erledigen
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