Anne auf Green Gables
bleiben und sich nicht auf Spekulationen einzulassen.
»Gib mir keine Widerworte, Anne. Es war sehr dumm von dir, so etwas zu tun. Dass mir das nicht noch einmal zu Ohren kommt! Mrs Ra chel sagte, sie wäre am liebsten im Boden versunken, als sie dich in die Kirche hereinspazieren sah. Die Leute haben sich natürlich mal wieder das Maul zerrissen. Sie denken, ich hätte nichts Besseres zu tun, als dich derart aufgetakelt zur Kirche zu schicken!«
»Ach, es tut mir so Leid, Marilla«, sagte Anne. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich hätte nie gedacht, dass es dir etwas ausmachen könnte. Die Rosen und Butterblumen waren einfach so schön, dass ich dachte, sie würden auf meinem Hut bestimmt nett aussehen. Viele der anderen Mädchen hatten künstliche Blumen an ihren Hüten. Ich konnte doch nicht wissen, dass ich dir damit wieder so viel Kummer machen würde. Vielleicht ist es doch besser, wenn ihr mich wieder zurück ins Waisenhaus schicktet.«
»Unsinn!«, wehrte Marilla ab. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie das Kind zum Weinen gebracht hatte. »Ich will dich nicht ins Waisenhaus zurückschicken, das ist sicher. Alles, was ich will, ist, dass du so brav bist wie die anderen kleinen Mädchen auch und dich nicht überall lächerlich machst. Hör auf zu weinen. Ich habe auch eine gute Nachricht für dich: Diana Barry ist heute Nachmittag nach Hause gekommen. Ich will nachher hinübergehen und Mrs Barry nach einem Schnittmuster fragen. Wenn du willst, kannst du mitkommen und Diana kennen lernen.«
Während die Tränen noch auf ihren Wangen glitzerten, sprang Anne auf und klatschte freudig in die Hände. Das Geschirrtuch, das sie gerade gesäumt hatte, fiel unbeachtet auf den Boden.
»Oh, Marilla, ich freue mich so! Aber ich habe Angst.. .Jetzt, wo Diana da ist, wird mir auf einmal ganz mulmig. Was wenn sie mich am Ende gar nicht leiden mag? Das wäre die schlimmste Enttäuschung meines Lebens.«
11 - Ein heiliger Eid wird geschworen
Eine Stunde später nahmen Marilla und Anne die Abkürzung über den Bach und durch das Tannenwäldchen nach Orchard Slope. Annes Gesicht war kreideweiß, ihre großen Augen glänzten.
»Oh, Marilla, ich bin so fürchterlich aufgeregt.«
»Nun mach dir mal keine Sorgen, Anne. Ich glaube schon, dass Diana dich schnell lieb gewinnen wird. Bei ihrer Mutter musst du dich allerdings vorsehen. Wenn sie etwas gegen dich hat, dann ist es ganz egal, was Diana denkt. Hoffentlich hat sie noch nichts von deinem Zusammenstoß mit Mrs Lynde und von deinem Kirchenbesuch mit Butterblumen am Hut gehört. Du musst auf jeden Fall höflich zu ihr sein und dich gut benehmen. Und vor allem: Lass nicht wieder eine deiner verrückten Reden vom Stapel! - Aber Kind, du zitterst ja?« Anne zitterte tatsächlich. Ihre Hände waren eiskalt. »Bestimmt wärst du auch aufgeregt, wenn du gleich deine lang ersehnte Busenfreundin treffen würdest und befürchteten müsstest, dass ihre Mutter dich einfach nicht ausstehen kann«, stammelte sie.
Schweigend gingen sie weiter, bis sie das Haus der Barrys erreichten. Marilla klopfte, Mrs Barry kam zur Haustür. Sie war ein große Frau mit dunklen Augen und Haaren und strengen Gesichtszügen.
»Guten Tag, Marilla«, sagte sie herzlich. »Komm herein. Und das ist das kleine Mädchen, das ihr bei euch aufgenommen habt?«
»Ja, das ist Anne Shirley«, antwortete Marilla.
»Mit einem e am Ende«, fügte Anne atemlos hinzu. So aufgeregt sie auch war - in diesem wichtigen Punkt wollte sie Missverständnisse gar nicht erst aufkommen lassen.
Mrs Barry, die ihre Worte nicht gehört oder vielleicht auch nicht verstanden hatte, schüttelte ihr die Hand und fragte freundlich: »Wie geht es dir, Anne?«
»Gesundheitlich gut, nur in meinem Kopf herrscht im Moment ein ziemliches Durcheinander«, sagte Anne mit ernster Stimme und flüsterte dann Marilla zu: »Das war doch jetzt keine verrückte Rede, oder, Marilla?«
Diana saß auf dem Sofa und blätterte gerade in einem Buch, als Marilla und Anne die Küche betraten. Sie war ein sehr hübsches Mädchen. Von ihrer Mutter hatte sie die schwarzen Augen und Haare, von ihrem Vater die rosigen Wangen und weichen Gesichtszüge geerbt. »Das ist meine kleine Tochter Diana«, sagte Mrs Barry. »Diana, du könntest mit Anne in den Garten gehen und ihr deine Blumen zeigen. Das ist sowieso besser, als dir hier über den Büchern die Augen zu verderben. - Sie liest entschieden zu viel«, erklärte sie Marilla, als die beiden
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