Anne auf Green Gables
Tasche und schob sie unter Annes Arm. Anne fasste mit spitzen Fingern nach der Karte, ließ sie auf den Boden fallen und zertrat sie mit dem Absatz. Ohne Gilbert auch nur anzuschauen, nahm sie wieder ihre frühere Haltung ein.
Als der Unterricht vorbei war, ging Anne zu ihrer Bank hinüber, holte alle ihre Bücher, Hefte und Schreibutensilien heraus und nahm sie in einem dicken Stapel unter den Arm.
»Ich gehe nicht mehr zur Schule«, erklärte sie Diana auf dem gemeinsamen Heimweg.
Überrascht schaute Diana ihre Freundin an. Ob das wohl ihr Ernst war? »Meinst du, Marilla wird dir das erlauben?«, fragte sie.
»Sie muss«, antwortete Anne. »Solange dieser Lehrer da ist, werde ich keinen Fuß mehr in die Schule setzen!«
»Ach, Anne!« Diana machte ein Gesicht, als würden ihr jeden Moment die Tränen kommen. »Ich finde, du bist gemein. Was soll ich denn machen ohne dich? Mr Philipps wird mich neben diese schreckliche Josie Pye setzen - das weiß ich ganz genau, sie sitzt nämlich als Einzige allein. Bitte, komm morgen wieder mit mir zur Schule, Anne!«
»Ich würde fast alles in der Welt für dich tun, Diana«, sagte Anne traurig. »Ich würde mich vierteilen und steinigen lassen, nur um dir zu helfen. Aber zur Schule kann ich nicht mehr gehen. Hör auf, mich darum zu bitten. Es zerreißt mir das Herz.«
Diana ließ jedoch nicht locker. »Denk doch nur an all den Spaß, den du vermissen wirst! Wir bauen uns unten am Bach ein wunderschönes neues Haus und nächste Woche spielen wir Brennball, bestimmt hast du noch nie in deinem Leben Ball gespielt. Es ist fürchterlich aufregend. Und Alice Andrews bringt nächste Woche ein neues Buch mit, das wir unten am Bach Kapitel für Kapitel laut lesen wollen. Du liest doch so gerne vor, Anne.«
Nichts konnte Anne erweichen. Sie hatte einen festen Entschluss getroffen: Nie mehr würde sie zu Mr Philipps in die Schule gehen!
Das erzählte sie auch gleich Marilla, als sie wenig später nach Hause kam.
»Unsinn!«, sagte Marilla.
»Das ist überhaupt kein Unsinn«, erwiderte Anne und schaute Marilla mit ernsten, vorwurfsvollen Augen an. »Verstehst du denn nicht, Marilla? Man hat mich beleidigt!«
»Beleidigt! Was soll der Unfug? Du gehst morgen wie immer zur Schule.«
»Nein, das tue ich nicht.« Anne schüttelte ruhig den Kopf. »Ich gehe nicht mehr zur Schule, Marilla. Ich werde zu Hause lernen und mir dabei so viel Mühe geben wie irgend möglich. In die Schule gehe ich aber nicht mehr zurück, das steht fest!«
Marilla war der entschlossene Ausdruck in Annes Blick nicht entgangen. Es würde schwer sein, sie wieder umzustimmen. Klugerweise schwieg sie deshalb und zog es vor, die Sache erst einmal auf sich beruhen zu lassen.
Ich werde nachher zu Rachel hinübergehen und sie um Rat fragen, dachte sie. Sie hat zehn Kinder groß gezogen und kann mir sicherlich helfen, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Wahrscheinlich kennt sie die ganze Geschichte sowieso schon.
Als Marilla in Mrs Lyndes Küche trat, fand sie die alte Dame wie immer gut gelaunt auf ihrem Fensterposten.
»Du kannst dir sicherlich schon denken, weshalb ich komme«, eröffnete Marilla etwas verlegen das Gespräch.
Mrs Rachel nickte. »Wegen Annes Ärger in der Schule wahrscheinlich«, sagte sie. »Tillie Boulter hat auf ihrem Heimweg von der Schule bei mir vorbeigeschaut und mir die ganze Sache erzählt.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gab Marilla zu. »Sie ist fest entschlossen, nicht mehr zur Schule zu gehen. Eigentlich habe ich schon seit dem ersten Schultag mit Problemen gerechnet - es lief alles einfach zu gut. Was soll ich nun tun, Rachel?«
»Nun, da du mich um Rat fragst, Marilla«, sagte Mrs Lynde mit ihrer liebenswürdigsten Stimme - Mrs Lynde liebte es nun einmal, von anderen um Rat gefragt zu werden »ich würde zunächst einmal überhaupt nichts tun - jawohl! Meiner Meinung nach war Mr Philipps im Unrecht, aber das können wir natürlich schlecht zu den Kindern sagen. Ich halte sowieso nichts davon, die Mädchen zur Strafe neben den Jungen sitzen zu lassen. Tillie Boulter war richtig empört. Sie hat sofort Annes Partei ergriffen und meinte, alle anderen Schüler hätten auch auf ihrer Seite gestanden. Anne scheint bei ihnen recht beliebt zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass sie so gut mit ihnen auskommt.«
»Du meinst also wirklich, ich sollte ihr einfach ihren Willen lassen und sie zu Hause behalten?«, fragte Marilla verwundert.
»Ja. Das Wort >Schule< würde
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