Anne auf Green Gables
freut mich, dass es dir schmeckt. Nimm dir nur, so viel du willst. Ich schüre inzwischen das Feuer in der Küche. Es gibt so viele Verpflichtungen, man muss an alles denken, wenn man einen Haushalt fuhrt.«
Als Anne von der Küche zurückkam, hatte Diana gerade ihr zweites Glas geleert und erhob auch keine größeren Einwände gegen Annes Aufforderung, ruhig noch ein drittes Glas zu trinken. Der Johannisbeersaft schmeckte ihr offenbar ausgezeichnet.
»Der beste, den ich je getrunken habe«, sagte Diana. »Viel besser als der von Mrs Lynde, dabei bildet sie sich auf ihren Gott weiß was ein.«
»Das überrascht mich gar nicht, dass der Saft von Manila besser ist«, meinte Anne. »Marilla ist nämlich eine phantastische Köchin. Sie versucht gerade, mir das Kochen beizubringen, aber ich sage dir, Diana: Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Beim Kochen kann man seine Phantasie überhaupt nicht entfalten, man muss sich immer genau an die Regeln halten. Das letzte Mal, als ich einen Kuchen backen sollte, habe ich das Mehl vergessen. Ich habe mir gerade eine herzzerreißende Geschichte über uns beide ausgedacht, Diana. Ich habe mir vorgestellt, du hättest eine fürchterliche Krankheit: die Schwarzen Pocken. Alle hatten sie dich aus Angst vor Ansteckung verlassen - nur ich saß an deinem Bett und pflegte dich so lange, bis du wieder ganz gesund warst. Und dann habe ich die Schwarzen Pocken gekriegt und bin daran gestorben. Du hast eine Rose auf meinem Grab gepflanzt und sie mit deinen Tränen begossen. Dein ganzes Leben lang hast du immer an deine Jugendfreundin gedacht, die einst ihr Leben für dich geopfert hat . . . Oh, was für eine herrliche Geschichte, Diana! Während ich den Teig knetete, sind mir die Tränen nur so heruntergelaufen. Dabei habe ich dann das Mehl vergessen und der Kuchen wurde ein voller Misserfolg. Marilla war sehr böse auf mich. Ich kann ihr das nicht mal verübeln. Sie hat kein leichtes Leben mit mir. - Aber Diana, was ist denn mit dir los?«
Diana war kurz aufgestanden, hatte sich aber gleich wieder hingesetzt und hielt nun mit beiden Händen ihren Kopf. »Mir ist... mir ist übel«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Ich ... ich muss ... nach Hause.«
»Aber du darfst doch jetzt nicht nach Hause gehen! Wir haben noch gar nicht Tee getrunken!«, rief Anne entgeistert aus. »Ich werde sofort den Kessel aufsetzen.«
»Ich will nach Hause«, wiederholte Diana schwach.
»Dann lass mich dir wenigstens noch etwas zu essen anbieten«, flehte Anne ihre Freundin an. »Ich hole den Obstkuchen. Leg dich in der Zwischenzeit ein bisschen aufs Sofa, dann wird es dir gleich wieder besser gehen.«
»Ich will nach Hause«, sagte Diana noch einmal, nun schon etwas bestimmter. Mehr brachte sie allerdings nicht hervor.
»Ich habe noch nie gehört, dass ein Gast vor dem Tee nach Hause ging«, beklagte sich Anne. »Oh, Diana, vielleicht hast du wirklich die Schwarzen Pocken bekommen? Wenn du krank wirst, werde ich dich pflegen, darauf kannst du dich verlassen. Ich werde nicht von deiner Seite weichen. Aber du kannst doch wenigstens noch bis zum Tee bleiben, oder? Wo tut es denn weh?«
»Mir ist ganz schwindelig.«
Und tatsächlich: Diana konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Tränen der Enttäuschung in den Augen, brachte Anne ihre Freundin zurück zur Barry-Farm. Auf dem Rückweg nach Green Gables weinte sie hemmungslos. Traurig stellte sie den Rest Johannisbeersaft zurück in die Speisekammer und bereitete das Abendessen für Matthew und Jerry vor.
Der nächste Tag war ein Sonntag, und da es von morgens bis abends regnete, konnte Anne keinen Fuß vor die Tür setzen. Am Montagnachmittag schickte Marilla sie zu Mrs Lynde hinüber, doch schon nach kurzer Zeit kam Anne zurückgelaufen. Dicke Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie stürzte in die Küche und warf sich laut schluchzend auf das Sofa.
»Was ist denn nun schon wieder passiert?«, erkundigte sich Marilla besorgt. »Ich hoffe, du hast Mrs Lynde nicht wieder beleidigt?«
»Mrs Lynde war heute drüben auf Orchard Slope. Mrs Barry war entsetzlich aufgeregt«, schluchzte Anne. »Sie sagte, ich hätte Diana am Samstag betrunken gemacht und sie in einem jämmerlichen Zustand nach Hause geschickt. Sie meinte, ich sei durch und durch verdorben und Diana dürfe nie wieder mit mir spielen. Oh, Marilla, ich bin ja so unglücklich.«
»Diana betrunken gemacht?«, fragte Marilla verwundert. »Was um alles in der Welt hast du ihr zu trinken
Weitere Kostenlose Bücher