Anne auf Green Gables
ich ihr gegenüber gar nicht mehr erwähnen. Verlass dich drauf, Marilla, in ein oder zwei Wochen wird sie sich beruhigt haben und von selbst auf die Idee kommen, wieder zur Schule zu gehen. Wenn du sie aber jetzt dazu zwingst, könnte der Ärger nur noch schlimmer werden. Je weniger Aufhebens um die ganze Sache gemacht wird, desto besser. Was den Unterricht angeht, so wird sie sowieso nicht allzu viel verpassen. Mr Philipps ist der schlechteste Lehrer, den wir je hatten. Er kann keine Ordnung halten. Außerdem vernachlässigt er die Kleinen und widmet fast seine ganze Zeit den großen Schülern, die er auf die Aufnahmeprüfung am Queen’s College vorbereitet. Er hätte die Stelle gar nicht erst bekommen, wenn sein Onkel nicht so einen großen Einfluss bei der Schulbehörde hätte. Ehrlich — ich frage mich, wie das mit der Schulbildung hier auf der Insel noch enden soll.«
Mrs Rachel schüttelte den Kopf, als wollte sie zum Ausdruck bringen, dass die Dinge sehr viel besser laufen würden, wenn sie in der Schulbehörde das Sagen hätte.
Marilla befolgte den Rat ihrer Nachbarin und erwähnte die ganze Geschichte gegenüber Anne mit keinem Wort. Anne lernte aus ihren Büchern, erledigte ihre Aufgaben im Haus und ging mit Diana spielen. Wenn sie Gilbert zufällig auf der Straße traf oder ihm in der Sonntagsschule begegnete, strafte sie ihn mit eisiger Verachtung. Sein offensichtliches Bemühen, sich wieder mit ihr zu versöhnen, blieb ohne jeden Erfolg. Auch Dianas Versuche, als Friedensstifterin aufzutreten, waren zum Scheitern verurteilt. Anne war fest entschlossen, Gilbert Blythe bis an ihr Lebensende leidenschaftlich zu hassen.
15 - Tee mit tragischen Folgen
Der Oktober war ein wunderschöner Monat auf Green Gables. Die Blätter der Birken unten in der Senke färbten sich golden, die Ahornbäume hinter dem Obstgarten und die wilden Kirschen entlang des Hohlwegs wurden purpurrot und braun.
Anne genoss die herbstliche Farbenpracht aus tiefstem Herzen. »Oh, Marilla!«, rief sie eines Sonntagsmorgens aus, als sie mit einem üppigen Herbststrauß im Arm in die Küche gelaufen kam, »ich bin so froh, dass ich in einer Welt lebe, in der es einen Oktober gibt. Es wäre doch jammerschade, wenn wir vom September gleich zum November springen müssten, findest du nicht? - Schau dir nur diese Ahornzweige an! Ich möchte mein Zimmer damit schmücken.«
»Sie machen nur Dreck«, antwortete Marilla, deren Schönheitssinn nicht sonderlich entwickelt war. »Du stopfst dein Zimmer sowieso schon viel zu voll mit Dingen, die eigentlich nach draußen gehören. Schlafzimmer sind dazu da, dass man in ihnen schläft, Anne.«
». . . und träumt, Marilla! Je schöner die Umgebung, desto schöner auch die Träume. Ich will die Zweige in dem alten blauen Krug auf meinen Tisch stellen.«
»Aber pass auf, dass du die Blätter nicht auf der Treppe verstreust. -Ich gehe heute Nachmittag zur Versammlung des Frauenhilfswerks in Carmody, Anne. Vor Einbruch der Dunkelheit werde ich wohl nicht wieder hier sein. Du musst Matthew und Jerry das Abendessen richten. Wenn du magst, kannst du Diana heute Nachmittag zum Tee einladen.«
»Oh, Marilla!« Anne klatschte in die Hände. »Wie wunderbar! Du hast inzwischen auch gelernt, dir Dinge vorzustellen! Oder wie konntest du sonst erraten, dass ich mir das schon lange gewünscht habe? Das klingt so herrlich erwachsen: >seine Freundin zum Tee einladend< Mach dir keine Sorgen, das mit dem Abendessen werde ich schon schaffen. - Darf ich das Rosenknospenservice für uns aufdecken?«
»Nein, auf gar keinen Fall! Du weißt doch ganz genau, dass ich es selbst nie benutze - außer wenn der Pfarrer oder die Damen vom Hilfswerk zu Besuch kommen. Du nimmst unser braunes Alltagsgeschirr. Du darfst den kleinen gelben Topf mit dem Kirschkompott aufmachen, das muss sowieso gegessen werden. Und ihr könnt euch auch von dem Obstkuchen und den Keksen nehmen, in der Speisekammer, im zweiten Fach, steht noch eine Flasche Johannisbeersaft. Davon könnt ihr trinken, so viel ihr wollt.«
»Ach, ich kann mir schon vorstellen, wie ich am Kopfende des Tisches sitze und den Tee einschenke«, schwärmte Anne mit geschlossenen Augen. »Ich werde Diana fragen, ob sie ihren Tee mit Zucker nimmt. Natürlich weiß ich schon längst, dass sie keinen nimmt - ich werde nur so tun, als wüsste ich es nicht. Und dann werde ich sie nötigen, noch ein Stück von dem Obstkuchen zu essen und sich noch etwas von dem Kompott aufzufüllen.
Weitere Kostenlose Bücher