Anne auf Green Gables
ihrem Nachbarn, malten Bilder auf ihre Schiefertafeln oder schossen sich zwischen den Bänken kleine Papierbälle zu. Die ganze Zeit über versuchte Gilbert Blythe, Anne Shirleys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - jedoch ohne Erfolg. Anne war weit weg. Das Kinn auf beide Hände gestützt, den starren Blick auf die Landschaft jenseits des Fensters gerichtet, reiste sie durch ein schillerndes Traumland. Von dem, was um sie herum vorging, sah und hörte sie nichts.
Gilbert Blythe war nicht gewohnt, sich vergeblich um die Aufmerksamkeit eines Mädchens zu bemühen. Er wollte es ihr schon zeigen, diesem rothaarigen Geschöpf mit dem kleinen spitzen Kinn und den großen Augen, die so anders waren als die Augen all der anderen Mädchen in Avonlea. Gilbert lehnte sich über den Gang zu Anne hinüber, nahm einen ihrer roten Zöpfe in die Hand, hob ihn hoch und rief: »He, Karotte! Karotte!«
Blinder Zorn stand in Annes Augen geschrieben, als sie sich zu Gilbert umwandte. Ihre schönen Traumbilder hatten ein jähes Ende gefunden. Blitzschnell sprang sie auf, griff nach ihrer Schiefertafel und schlug sie mit voller Wucht über Gilberts Kopf. Es knackte laut - Anne hatte so heftig zugeschlagen, dass die Tafel in zwei Teile zerbrach.
Ein Raunen ging durch den Klassenraum. So etwas hatte es in der Schule von Avonlea noch nie gegeben.
Mit großen Schritten kam Mr Philipp auf Anne zu und packte sie an der Schulter.
»Anne Shirley, was hat das zu bedeuten?«, fragte er zornig.
Anne gab keine Antwort. Sollte sie etwa noch vor der ganzen Klasse wiederholen, wie dieser Junge sie genannt hatte? Da meldete sich Gilbert zu Wort.
»Das war meine Schuld, Mr Philipp«, sagte er tapfer, »ich habe sie geärgert.«
Mr Philipps würdigte Gilbert jedoch keines Blickes.
»Es geht nicht an, dass eine meiner Schülerinnen sich so unbeherrscht und rachsüchtig zeigt«, sagte er in ernstem Ton, so als ob die bloße Tatsache, seine Schule zu besuchen, alle schlechten Eigenschaften automatisch verbannen würde. »An die Tafel mit dir, Anne. Und dort bleibst du den ganzen Nachmittag über stehen.«
Es wäre Anne lieber gewesen, wenn er sie geschlagen hätte. Das wäre leichter für sie zu ertragen gewesen, als dort vorne vor der ganzen Klasse stehen zu müssen. Doch sie gehorchte. Mit blassem Gesicht schritt sie zur Tafel. Mr Philipp nahm ein Stück Kreide und schrieb: »Ann Shirley ist jähzornig und ungezogen. Sie muss lernen, sich zu beherrschen.« Dann las er die beiden Sätze laut vor, sodass selbst die Erstklässler, die noch nicht lesen konnten, Bescheid wussten.
Unter dieser schriftlichen Anklage verbrachte Anne den Rest des Nachmittags. Sie war vollkommen stumm, weinte nicht und ließ auch nicht den Kopf hängen. Ihr Zorn war stärker als das Gefühl der Demütigung. Mit funkelnden Augen und geröteten Wangen stellte sie sich ihren Mitschülern. Dianas mitfühlenden Blicken genauso wie Charlie Sloanes entrüstetem Kopfschütteln oder Josie Pyes schadenfrohem Lächeln. Was Gilbert Blythe anging, so schaute sie nicht ein einziges Mal zu ihm hinüber. Sie würde ihn niemals wieder anschauen!
Als der Unterricht endlich vorbei war, ging Anne mit hocherhobenem Kopf aus dem Klassenraum. Gilbert Blythe versuchte sie im Vorraum abzufangen.
»Es tut mir schrecklich Leid, dass ich mich über deine Haare lustig gemacht habe, Anne«, flüsterte er mit zerknirschtem Gesicht. »Ehrlich! Sei doch nicht mehr böse, Anne.«
Doch Anne würdigte ihn keines Blickes. Sie tat so, als hätte sie ihn weder gehört noch gesehen.
»Oh, wie konntest du nur, Anne?«, fragte Diana später in halb vorwurfsvollem, halb bewunderndem Tonfall, als sie zusammen die Landstraße hinuntergingen. Diana wusste, dass sie Gilberts flehentliche Bitte nicht hätte ausschlagen können.
»Ich werde Gilbert Blythe niemals verzeihen«, sagte Anne fest. »Und Mr Philipps hat meinen Namen ohne e geschrieben. Dieser Dolch hat mich mitten ins Herz getroffen, Diana.«
Diana war sich nicht ganz sicher, wie sie Annes letzten Satz deuten sollte, aber ihr war klar, dass es sich um etwas sehr Schlimmes handeln musste.
»Du solltest das nicht so ernst nehmen«, wollte Diana sie besänftigen. »Gilbert hänselt doch alle Mädchen. Zu mir sagt er immer >schwarze Dohle<. Aber ich habe ihn noch niemals vorher für irgendetwas um Entschuldigung bitten hören.«
»Das sind zwei völlig verschiedene Dinge, ob man zu jemandem >schwarze Dohle< sagt oder »Karotte«!«, erwiderte Anne
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