Anne auf Green Gables
entschieden. »Gilbert Blythe hat mich bis ins Mark verletzt.«
Trotz dieser großen Worte hätte die ganze Geschichte ohne weiteres im Sande verlaufen können, wenn nicht kurz darauf ein zweiter Zwischenfall die Gemüter weiter erhitzt hätte. Ein Sturm, der sich erst einmal so richtig zusammengebraut hatte, entlädt sich dann auch meist mit voller Wucht.
Die Schulkinder von Avonlea verbrachten ihre Mittagspause gern unter Mr Beils Nussbäumen, die jenseits eines großen Feldes ein gutes Stück von der Schule entfernt standen. Von dort aus konnten sie das Wohnhaus des Lehrers jederzeit im Auge behalten. Erst wenn sie sahen, dass er am Ende der Pause sein Haus verließ, liefen sie zur Schule zurück. Nicht selten kam es vor, dass sie ein paar Minuten zu spät dort eintrafen und sich keuchend und prustend auf ihre Plätze schleichen mussten.
Am Tag nach Annes unerfreulichem Zusammenstoß mit Gilbert Blythe hatte Mr Philipps wieder einmal das dringende Bedürfnis verspürt, »andere Saiten aufzuziehen« und seine Schüler zur Vernunft zu bringen. Deshalb kündigte er lautstark an, dass es mit dem Herumtreiben in der Mittagspause nun vorbei sei und er jeden Schüler, der den Klassenraum nach der Pause zu spät beträte, hart bestrafen werde.
Natürlich gingen die Jungen und einige der Mädchen auch an diesem Tag zu den Nussbäumen hinüber. Sie hatten sich vorgenommen, früher als gewöhnlich wieder zur Schule zurückzulaufen. Doch die Nüsse schmeckten zu gut, dass sie die Zeit vergaßen. Erst die laute Stimme von Jimmy Glover, der auf dem höchsten Baum hockte, schreckte sie auf: »Der Lehrer kommt!«
Anne, die nicht nach Nüssen gesucht hatte, sondern sich in einer entfernten Ecke unter den Bäumen mit Blumen geschmückt und ihren Träumen nachgehangen hatte, war eine gute Läuferin. Mit voller Kraft lief sie los, überholte sogar noch einige der Jungen und betrat atemlos das Klassenzimmer, als Mr Philipps gerade seinen Hut an den Haken hängte.
Der erzieherische Elan des Lehrers war eigentlich schon längst verflogen, er wollte sich auch nicht der lästigen Mühe unterziehen, ein Dutzend Schüler bestrafen zu müssen. Doch sein Wort musste er halten, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen. Er schaute sich nach einem Sündenbock um. Sein Blick fiel auf Anne, die - immer noch ganz erhitzt vom Laufen - mit roten Wangen und glänzenden Augen auf ihrem Platz saß.
»Anne Shirley, da du offensichtlich so erpicht bist auf die Gesellschaft der Jungen, wollen wir dich heute Nachmittag einmal so richtig verwöhnen«, sagte er bissig. »Nimm die Blumen aus dem Haar und setz dich neben Gilbert Blythe.«
Die anderen Schüler kicherten. Diana, die vor Mitgefühl ganz blass geworden war, zupfte die Blumen aus Annes Haar und drückte fest die Hand ihrer Freundin. Fassungslos starrte Anne ihren Lehrer an. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe, Anne?«, fuhr Mr Philipps sie an.
»Doch, Sir«, antwortete Anne zögernd. »Aber ich habe nicht gedacht, dass Sie es ernst meinen.«
»Wenn ich etwas sage, dann meine ich es auch!«, donnerte er.
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Anne seinem Befehl trotzen, doch dann erkannte sie, dass es keinen Ausweg für sie gab. Erhobenen Hauptes stand sie auf, ging zu Gilbert Blythe hinüber und setzte sich. Dann beugte sie sich weit nach vorn und vergrub ihr Gesicht in beiden Armen.
Für Anne war der Weltuntergang in sichtbare Nähe gerückt. Es war ja schon schlimm genug, aus einem Dutzend Schuldiger als Einzige eine Strafe zu bekommen - aber dass sie sich ausgerechnet auch noch neben Gilbert Blythe setzen musste, das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen! Anne war zutiefst aufgewühlt vor Scham, Zorn und gedemütigtem Stolz.
Die anderen Schüler kicherten noch eine Weile über die neue Sitzordnung in der Klasse, doch als Anne ihren Kopf überhaupt nicht mehr hob und Gilbert sich mit glühenden Wangen in seine Rechenaufgaben vertiefte, wandten sie sich bald wieder ihren eigenen Aufgaben zu und überließen Anne ihrem Schicksal. Eine Stunde später rief Mr Philipps seine älteren Schüler zum Geschichtsunterricht auf. Anne hätte eigentlich aufstehen müssen, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Doch Mr Philipps, der gerade einige Verse »Für Pricilla« gedichtet hatte und noch über einen schwierigen Reim nachdachte, bemerkte das gar nicht, in einem unbeobachteten Moment nahm Gilbert eine kleine rosa Karte mit der Goldaufschrift »Du bist süß« aus seiner
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