Anne auf Green Gables
vergiften. Warum sollte ich so etwas tun? Stellen Sie sich doch nur einmal vor, Sie wären ein armes kleines Waisenmädchen, das freundliche Menschen bei sich aufgenommen hätten und das nur eine einzige Busenfreundin auf der ganzen Welt besäße. Meinen Sie wirklich, Sie würden diese Freundin absichtlich vergiften? Ich dachte, es wäre Johannisbeersaft, davon war ich fest überzeugt. Oh, bitte, lassen Sie Diana wieder mit mir spielen. Wenn Sie uns trennen, wird dieser Kummer mein ganzes Leben überschatten.« Diese Rede, die das Herz einer Mrs Lynde im Handumdrehen erweicht hätte, verfehlte ihre Wirkung bei Mrs Barry vollkommen. Annes große Worte machten die strenge Frau nur noch misstrauischer. Wollte sich das Mädchen etwa auch noch über sie lustig machen?
»Ich glaube nicht, dass du der richtige Umgang für Diana bist. Geh jetzt nach Hause und lern dich anständig zu benehmen.«
Annes Lippen zitterten. »Darf ich Diana wenigstens noch einmal sehen, um ihr Lebewohl zu sagen?«, bat sie mit flehender Stimme. »Diana ist mit ihrem Vater nach Carmody gefahren«, sagte Mrs Barry und schloss die Küchentür hinter sich.
Stumm vor Schmerz kehrte Anne nach Green Gables zurück.
Als Marilla vor dem Zubettgehen noch einmal leise in Annes Zimmer trat, sah sie, dass das Mädchen sich in den Schlaf geweint hatte.
»Armes, kleines Ding«, murmelte sie, beugte sich über das Bett und drückte einen zärtlichen Kuss auf Annes feuchte Wangen.
16 - Zurück in der Schule
Am folgenden Nachmittag saß Anne am Küchenfenster und beugte sich über ihre Näharbeit. Ab und zu schaute sie gedankenverloren nach draußen. Da fiel ihr Blick plötzlich auf Diana, die völlig unerwartet aus dem Hohlweg vor Green Gables auftauchte. Im Handumdrehen war Anne aus dem Haus und lief ihrer Freundin entgegen. Erstaunen und Hoffnung schimmerten in ihren Augen. Doch die Hoffnung schwand, als sie Dianas niedergeschlagenes Gesicht sah. »Deine Mutter hat noch nicht nachgegeben?«
Diana schüttelte traurig den Kopf. »Sie sagt, ich darf nie wieder mit dir spielen. Ich habe geweint und gebettelt und ihr versichert, dass es nicht deine Schuld war, aber es hat nichts genutzt. Es war schon schwierig genug, auch nur die Erlaubnis zu bekommen, dir wenigstens noch Lebewohl zu sagen. Sie hat mir nur zehn Minuten gegeben und gesagt, sie würde genau auf die Uhr schauen.«
»Zehn Minuten! Das ist nicht gerade lang für einen Abschied auf ewig.« Anne standen dicke Tränen in den Augen. »Oh, Diana, willst du mir versprechen, mir immer treu zu bleiben und die Freundin deiner Jugendtage nie zu vergessen, was für Menschen auch immer in dein Leben treten?«
»Das verspreche ich dir«, schluchzte Diana, »und ich werde nie eine andere Busenfreundin haben - ich könnte niemals jemanden so lieb haben wie dich.«
»Oh, Diana - du hast mich wirklich lieb?«
»Aber natürlich. Wusstest du das denn nicht?«
»Nein.« Anne seufzte tief. »Ich dachte, dass du mich magst, aber ich habe nie zu hoffen gewagt, dass du mich lieb hast. Sag es doch bitte noch einmal.«
»Ich habe dich lieb, Anne, und ich werde dich immer lieb haben, da kannst du dir ganz sicher sein.«
»Und ich werde dich auch immer lieb haben, Diana«, erwiderte Anne mit feierlich erhobener Hand. »Das Andenken an dich wird wie ein heller Stern über meinen einsamen Tagen leuchten - genau wie es in der Geschichte stand, die wir zusammen gelesen haben, weißt du noch? Gewährst du mir eine Locke von deinen wunderbaren schwarzen Flechten? Ich werde sie als ewiges Andenken an meinem Busen tragen.«
»Hast du etwas zum Schneiden dabei?« Diana wischte sich die Tränen ab und kehrte zu den praktischen Fragen des Lebens zurück.
»Ja, ich habe zufällig meine Schere in der Schürzentasche, ich war nämlich gerade beim Nähen«, antwortete Anne. Dann schnitt sie Diana feierlich eine Haarsträhne ab. »So leb denn wohl, meine geliebte Freundin. Von heute an müssen wir wie Fremde leben, doch in meinem Herzen wirst du ewig wohnen.«
Anne blieb am Hohlweg stehen und winkte Diana traurig nach, bis ihre kleine Gestalt wieder hinter den Büschen verschwunden war. Dieser romantische Abschied hatte sie mit dem Lauf der Dinge ein wenig versöhnen können.
»Jetzt ist alles aus«, sagte sie zu Marilla in der Küche. »Ich werde nie wieder eine Freundin haben. Dabei wird es viel schlimmer sein als vorher, denn wenn man einmal eine richtige Busenfreundin gehabt hat, weiß man, was man verloren hat. Diana hat mir
Weitere Kostenlose Bücher