Anne auf Green Gables
eine Locke von ihrem Haar geschenkt und ich will mir einen kleinen Beutel nähen, in dem ich sie um den Hals tragen kann. Bitte, sorge dafür, dass der Beutel mir ins Grab gelegt wird, ich glaube nämlich nicht, dass ich noch lange leben werde. Vielleicht wird der Anblick meiner Leiche Mrs Barrys Herz erweichen und sie wird Diana zu meinem Begräbnis gehen lassen.«
»Ich glaube nicht, dass du an gebrochenem Herzen sterben wirst, solange du noch reden kannst, Anne«, gab Marilla trocken zurück.
Am folgenden Montagmorgen sah sie zu ihrer Überraschung Anne mit ihren Büchern unter dem Arm und einem entschlossenen Gesichtsausdruck aus ihrem Zimmer kommen.
»Ich gehe wieder zur Schule«, verkündete sie. »Das ist alles, was ich jetzt noch im Leben habe, seit man mir meine Freundin unbarmherzig entrissen hat. in der Schule kann ich sie wenigstens anschauen und unserer gemeinsamen Zeit gedenken.«
»Du solltest lieber deiner Rechen- und Schreibarbeiten gedenken«, sagte Marilla und verbarg mit ihrem strengen Tonfall die Freude über Annes Entscheidung. »Ich hoffe, wir werden nun nichts mehr von Schiefertafeln hören, die über anderer Leute Köpfe zerbrochen werden. Benimm dich gefälligst.«
»Ich werde versuchen eine Musterschülerin zu werden«, versprach Anne. »Das wird allerdings nicht gerade lustig sein, fürchte ich. Mr Philipps sagt, Minnie Andrews sei eine Musterschülerin und Minnie hat auch nicht einen Funken Phantasie. Sie ist langweilig und unscheinbar, sie kann sich über nichts richtig freuen. Aber wo ich jetzt sowieso traurig bin, wird es mir vielleicht auch nicht so schwer fallen.«
In der Schule wurde Anne mit offenen Armen empfangen. Beim Spielen hatte man ihre Phantasie vermisst, beim Singen ihre helle Stimme und beim Vorlesen in der Pause ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Ruby Gillis schob ihr während der Bibelstunde drei dicke, saftige Pflaumen herüber und Ella May MacPherson schenkte ihr ein wunderschönes Bild von einem riesigen gelben Stiefmütterchen, das sie aus dem Umschlag eines Blumenkatalogs ausgeschnitten hatte. Sophia Sloane wollte ihr ein brandneues Muster zum Stricken feiner Spitze zeigen, Katie Boulter schenkte ihr ein leeres Parfümfläschchen, in dem sie Wasser zum Putzen ihrer Tafel aufbewahren konnte, und Julia Bell schrieb ihr die folgenden Zeilen auf ein Stück rosa Schreibpapier:
Für Anne
Wenn Dunkelheit die Welt umgibt,
Die Stern’ am Himmel stehen,
Dann weißt du, dass ein Mensch dich liebt,
Auch wenn er fern mag gehen.
»Es ist so schön, gemocht zu werden, Marilla«, schloss Anne ihren begeisterten Bericht am Abend.
Doch die Mädchen waren nicht die Einzigen in der Schule, die sie >mochten<. Als Anne nach der Mittagspause zurück zu ihrer Bank ging - Mr Philipps hatte ihr den Platz neben der Musterschülerin Minnie Andrews zugewiesen-, lag dort ein großer, rotbackiger Apfel auf ihrem Platz. Anne wollte gerade zu einem herzhaften Biss in den Apfel ansetzen, als ihr voller Schrecken einfiel, dass diese leckeren roten Äpfel nur an einem einzigen Ort in Avonlea zu bekommen waren: in dem alten Obstgarten der Blythe-Farm am anderen Ende des >Sees der glitzernden Wasser<. Anne ließ den Apfel fallen, als hätte sie eine glühende Kohle in der Hand, und wischte sich betont gründlich die Hände an ihrem Taschentuch ab. Der Apfel lag noch immer unberührt auf ihrem Tisch, als der kleine Timothy Andrews am nächsten Morgen den Klassenraum ausfegte und den Schatz an sich nahm. Der reich verzierte Griffel für zwei Cents -normale Griffel kosteten nur einen -, den Charlie Sloane ihr nach der Pause zusteckte, fand da schon eine freundlichere Aufnahme. Anne freute sich sichtlich über das Geschenk und belohnte den großzügigen Spender mit einem Lächeln, das den völlig in sie vernarrten Jungen in den siebten Himmel versetzte und ihn zu derart schlimmen Fehlern in seinem Diktat verleitete, dass Mr Philipps ihn nach der Schule nachsitzen und alles noch einmal schreiben ließ. Annes Freude über den herzlichen Empfang in der Schule wurde nur durch die Tatsache getrübt, dass Mrs Barry Diana verboten hatte, mit Anne zu sprechen. Doch die beiden Freundinnen schrieben sich innige Briefe, die sie mit großem Geschick von einer Seite des Klassenzimmers zur anderen schmuggelten und in denen sie sich weiterhin ewige Treue schworen.
Marilla hatte eigentlich nur mit neuen Schwierigkeiten gerechnet, als Anne wieder zur Schule ging. Doch alles ging gut. Vielleicht
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