Anne auf Green Gables
Ofen, an den Fensterscheiben glitzerten blauweiße Eiskristalle. Matthew war auf dem Sofa über einer landwirtschaftlichen Zeitung eingenickt, während Anne entschlossen ihre Nase tief in ihre Schulbücher steckte und versuchte, nicht an das spannende Buch zu denken, das ihr Jane Andrews am Morgen geliehen hatte. Jane hatte ihr in höchsten Tönen von dem Roman vorgeschwärmt und immer wieder überkam Anne das Verlangen, ihr Schulbuch zuzuklappen und nach der spannenden Lektüre zu greifen. Doch das hätte Gilbert Blythes sicheren Triumph am nächsten Morgen in der Schule bedeutet.
»Matthew, musstest du auch Geometrie lernen, als du zur Schule gegangen bist?«
»Hm, nein ... ich glaube nicht.« Matthew fuhr etwas erschreckt aus seinem Halbschlaf hoch.
»Ich wünschte, du hättest es lernen müssen. Dann könntest du jetzt nämlich richtig Mitleid mit mir haben. Wer nie Geometrie lernen musste, kann meinen Kummer wahrscheinlich nicht verstehen. Ich bin eine große Niete in Geometrie, Matthew.«
»Nun lass mal gut sein«, erwiderte Matthew besänftigend. »Ich glaube, du bist gut genug in der Schule. Ich habe Mr Philipps letzte Woche in Blairs Laden in Carmody getroffen. Er sagte, du seist die gescheiteste Schülerin von allen und würdest gute Fortschritte machen. >Gute Fortschritte< - das waren seine eigenen Worte. Einige Leute halten ja nicht so viel von Teddy Philipps als Lehrer. Aber ich glaube, er ist ganz in Ordnung.«
Matthew hätte jeden, der Anne gelobt hätte, >in Ordnung< gefunden. »Wie es wohl Marilla und Mrs Lynde geht? Mrs Lynde sagt, dass das Land bald vor die Hunde geht, wenn die Regierung so weitermacht. Wen wählst du eigentlich, Matthew?«
»Die Konservativen«, antwortete Matthew wie aus der Pistole geschossen. Konservativ zu wählen war für ihn Teil seiner Religion. »Dann würde ich auch die Konservativen wählen«, erklärte Anne bestimmt. »Ich bin froh, weil Gil... ich meine, weil einige der Jungen in der Schule zu den Liberalen gehören. Mr Philipps ist wahrscheinlich auch ein Liberaler, weil Prissy Andrews Vater einer ist. Ruby Gillis meint, wenn ein junger Mann einem Mädchen den Hof macht, muss er in der Religion mit der Mutter übereinstimmen und in der Politik mit dem Vater. Stimmt das, Matthew?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Matthew.
»Hast du schon mal einem Mädchen den Hof gemacht, Matthew?«
»Nein, nicht dass ich wüsste«, antwortete Matthew, dem in seinem ganzen Leben noch nie der Gedanke gekommen war, auf ein Mädchen zuzugehen.
Das Kinn auf die Hand gestützt, dachte Anne angestrengt nach.
»Es muss ziemlich interessant sein, meinst du nicht, Matthew? Ruby Gillis sagt, wenn sie erst mal groß ist, wird sie bestimmt eine ganze Reihe Verehrer an der Angel haben und sie wird sie alle zappeln lassen. Naja, einer würde mir reichen, glaube ich. Ruby Gillis weiß über diese Dinge gut Bescheid, weil sie so viele ältere Schwestern hat, und Mrs Lynde sagt, die Gillis-Mädchen seien weggegangen wie die warmen Semmeln. Mr Philipps geht fast jeden Abend Prissy Andrews besuchen. Er sagt, er wolle ihr beim Lernen helfen, aber Miranda Sloane bereitet sich auch auf die Prüfung am Queen’s College vor und sie bräuchte bestimmt viel mehr Hilfe als Prissy - zu ihr geht er aber abends nie. Es gibt eine ganze Menge Dinge auf der Welt, die ich nicht so ganz richtig verstehe, Matthew.«
»Ich verstehe auch nicht alles, Anne«, gab Matthew zu.
»Naja, ich muss jetzt jedenfalls zu Ende lernen. Ich habe mir nämlich ganz fest vorgenommen, nicht in das Buch zu schauen, das Jane mir geliehen hat, bis ich den Stoff ganz durch habe. Aber es ist eine fürchterliche Versuchung, Matthew. Selbst wenn ich mich mit dem Rücken zu dem Buch setze, sehe ich es noch ganz klar vor mir. Jane meinte, sie hätte sich beim Lesen fast die Augen ausgeweint, und ich liebe nun mal Bücher, bei denen einem so richtig die Tränen kommen. Am besten bringe ich das Buch jetzt ins Wohnzimmer, schließe es in den Schrank und gebe dir den Schlüssel. Aber du darfst ihn mir nicht geben, bis ich mit dem Lernen fertig bin - selbst wenn ich dich auf den Knien darum bitten sollte. Einer Versuchung kann man nämlich viel leichter widerstehen, wenn man keinen Schlüssel dazu hat, verstehst du? - Soll ich in den Keller gehen und uns jedem einen Boskop holen, Matthew? Würdest du gerne einen essen?«
»Hm, tja ... ich weiß nicht... ich glaube, ja«, antwortete Matthew, der saure Äpfel nicht mochte, aber genau wusste,
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