Anne auf Green Gables
hatte das Beispiel ihrer neuen Banknachbarin, der Musterschülerin Minnie Andrews, doch etwas abgefärbt - jedenfalls kam sie von nun an mit Mr Philipps besser aus. Fest entschlossen, Gilbert Blythe in keiner Weise nachzustehen, stürzte Anne sich mit Herz und Seele in die Arbeit. Bald wuchs sich ihre Feindschaft zu einem heftigen Wettkampf um den Platz des Klassenbesten aus.
Während der von Natur aus gutmütige Gilbert durchaus noch auf Versöhnung aus war, hegte Anne nach wie vor einen bitteren Groll gegen ihn. Liebe und Hass waren bei ihr gleich starke Gefühle. Niemals hätte sie zugegeben, dass sie mit Gilberts Leistungen in der Schule wetteiferte, denn das hätte ja bedeutet, ihn in irgendeiner Weise anzuerkennen. Anne übersah Gilbert geflissentlich, sie tat so, als ob er Luft für sie wäre. Doch auch wenn Anne es nicht wahrhaben wollte: Die beiden versuchten nun ständig, sich gegenseitig zu überflügeln. Einmal war Gilbert der Beste in Rechtschreibung, ein anderes Mal Anne; an einem Morgen hatte Gilbert seine Hausaufgaben ohne Fehler erledigt und sein Name wurde auf den Ehrenplatz an der Tafel geschrieben, am nächsten Morgen nahm Annes Name diesen Platz ein. Es war ein Unglückstag für Anne, als sie einmal beide gleich gut waren und beide Namen zusammen an die Tafel geschrieben wurden. Für sie war das fast so schlimm, als wenn die Namen draußen an der Wand der Veranda gestanden hätten.
Wenn sie am Ende des Monats Arbeiten schrieben, war die Spannung fürchterlich. Im ersten Monat erreichte Gilbert die bessere Note, im zweiten Monat schlug ihn Anne mit einigem Vorsprung. Allerdings wurde ihr Triumph dadurch geschmälert, dass ihr Gilbert vor der ganzen Klasse freundlich gratulierte. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte niedergeschmettert den Raum verlassen.
Mr Philipps mochte kein besonders guter Lehrer gewesen sein, aber eine Schülerin, die so auf das Lernen versessen war wie Anne, konnte auch er nicht aufhalten. Am Ende des Schuljahrs wurden Anne und Gilbert beide in die fünfte Klasse versetzt und durften nun eine Reihe neuer Fächer hinzunehmen: Latein, Geometrie, Französisch und Algebra. In Geometrie wurde Anne jedoch bald eine Niederlage beschert.
»Es ist ein furchtbares, phantasieloses Zeug, Marilla«, stöhnte sie. »Ich werde einfach nicht daraus schlau. Mr Philipps sagt, ich sei die größte Niete in Geometrie, die er je gesehen hätte. Aber Gil . . . ich meine, einige von den anderen in der Klasse verstehen sofort, worum es dabei geht. Das ist ganz schön peinlich für mich, Marilla. Sogar Diana kommt besser damit zurecht als ich. Aber es macht mir nichts aus, wenn Diana besser ist. Obgleich wir jetzt wie Fremde leben müssen, ist meine Liebe für sie immer noch unauslöschlich. Manchmal bin ich sehr traurig, wenn ich an sie denke. Aber ehrlich gesagt, Marilla: In einer so interessanten Welt wie der unseren kann man einfach nicht lange traurig bleiben, oder?«
17 - Anne, die Lebensretterin
Alle großen und kleinen Dinge im Leben sind eng miteinander verwoben. Auf den ersten Blick mag man nicht glauben, dass die Entscheidung des kanadischen Premierministers, Prince Edward Island einen Besuch abzustatten, etwas mit dem Schicksal eines kleinen Mädchens namens Anne Shirley zu tun haben könnte. Doch genau das war der Fall.
Es war im Januar, als der Premierminister kam, um auf einer Kundgebung in Charlottetown zu sprechen. Die meisten Einwohner von Avonlea hatten bei der letzten Wahl für den Premierminister gestimmt und so war der Ort am Abend der Kundgebung wie ausgestorben: Fast alle Männer und viele Frauen waren die dreißig Meilen zur Hauptstadt der Insel gefahren. Auch Mrs Rachel war dabei. Sie interessierte sich brennend für Politik. Eine politische Veranstaltung ohne sie — das war eigentlich unvorstellbar, auch wenn sie eine glühende Gegnerin des Premierministers war. Also fuhr sie in die Stadt und nahm ihren Mann Thomas - irgendjemand musste ja schließlich auf die Pferde aufpassen - und ihre Nachbarin Marilla Cuthbert mit. Marilla dachte, sie könnte sich diese Gelegenheit, einmal in ihrem Leben einen leibhaftigen Premierminister zu sehen, nicht entgehen lassen. So überließ sie es Matthew und Anne, bis zu ihrer Rückkehr am folgenden Tag Haus und Hof zu versorgen.
Während also Marilla und Mrs Rachel sich in der Stadt amüsierten, hatten Anne und Matthew die gemütliche Küche in Green Gables einmal ganz für sich. Ein helles Feuer knisterte in dem altmodischen
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